Episode 2

Der Butler zerreißt das Himmelsgewebe

Mein Frühstücksnapf ist leergefressen, saubergeleckt, ich schüttle mich und freue mich auf ein Nickerchen. Ingold steht neben mir und dreht die Kurbel seiner ‹Comandante›-Mühle. Der gemahlene Kaffee kitzelt meine Nase mit dem Geruch meines Fells, wenn ich unter dem Redwood vor der Kirche döse.

«Koko, ich brauche dich.» Ingold dreht mir den Rücken zu und braut seinen Kaffee. Seine Stimme hat den kontrollierten Klang eines Bedrohten. Ich muss ihn aufmuntern.

«Mein sanfter Herr, ich bin Kokoro, deine Herzensdame, ich bin das Tier in dir.» 

«Begleite mich. Ich will den Butler treffen. Heute.»

Das ist ein Moment, in dem es mir recht ist, dass uns Menschen nicht annähernd so gut lesen können wie wir sie. ‹Butler› lässt meine Lefzen brennen und die Krallen schmerzen, keine Ahnung warum. Oder doch?

Ich bin ihm begegnet. Der Butler tönt wie ein Mann, er riecht wie ein Mensch, seine Hände sind warm, sein Blick ist weich. Eben sucht er nach einem Wort im Kreis seiner Lieben, und dann ist er fort. Keine Chance, zu sehen, wie er das macht. Niemand reagiert. Denn er sitzt immer noch da. Und vor mir kreist ein schwarzes Loch.

«Okay, wir besuchen den Butler», sage ich.

Ingold ist zufrieden. Während der Fahrt summt er. Ich erwache, als der Wagen in die Auffahrt einbiegt. Das Gebäude könnte ein Museum sein, mit Flügeltüren, wo keine Giraffe ihren Kopf einzieht. In der Empfangshalle sprudelt Wasser in einem Becken, an dem sich bei Sonnenuntergang wohl Antilopen, Wildschweine und Löwen versammeln, um zu saufen. Jetzt riecht es nach Essensresten, und von der Decke wehen verstaubte Musikfäden.

Hinter einem abweisenden Empfangsdesk und gestrigen Geräten hebt sich zäh ein kleiner Kopf. Ihre Augen sind verschleiert, wie wenn sie Milch statt Tränen weinte. Dann fragt die junge Frau mit kratzender Stimme: «Ja, bitte?»

Ingold zeigt sein Charme-Gesicht. «Wir kommen zum Butler.» 

«Hunde sind nicht erlaubt», raspelt sie.

«Kein Problem», lächelt Ingold, und ich knurre: Das hätten wir abkürzen können. Ich strecke mich und zeige ihr den Hund, der nach unten schaut. Sie kennt die Yoga-Stellung; ihre Mundwinkel verraten es. Dann bin ich draussen. Ingolds besorgter Blick folgt mir. Er weiß nie, in welcher Gestalt ich auftrete, wenn die ‹keine Hunde-Nummer› gespielt wird.

Mit träger Hand legt die Yoga-Elfe den Hörer zurück. «Der Butler erwartet Sie.»

Als ich durch die Flügeltüren trete, wird Ingold bleich. Und die Stimme hinter dem Desk bröckelt, als ob unsere Elfe Reste eines Diätriegels in der Kehle hätte: «Bitte?».

Ingold hat sich gefasst. «Sie gehört zu mir», sagt er lässig und dann, ganz der Boxer, der einen Tiefschlag wegsteckt: «Koko, da bist du ja.» 

Will man mich nicht wie ich bin, dann will ich mich amüsieren. Menschen zu verdattern ist simpel. Übertreibe ein wenig, und du hast ein geschenktes Spiel. Koko, die Zwergschnauzerherzensdame, hat sich der feindseligen Umgebung angepasst. Exakt nach Muhammad Alis Rezept: Schwebe wie ein Schmetterling, stich wie eine Biene.

Meine Safaristiefel sind aus Flusspferdleder und pieksauber, der Kaki-Overall aus Moleskin. Ich trage einen afrikanischen Juju-Federhut. Einzig die kleine Peitsche in meinem Gürtel wirkt vermutlich übertrieben in dieser Halle. Und ja: Auf zwei Beinen lasse ich – was nicht gerade höflich wäre – an eine Giraffe denken.

Ich beuge mich von oben herab über den Empfang, die Gruss-Elfe zieht den Kopf ein, aber mein Blick hält sie fest. «Ein Souvenir für Sie». Ich lege das Peitschchen hin, und einen Lidschlag lang sind ihre Augen klar. Entschieden weist sie auf eine der Türen ins Innere des Gebäudes.

Ingold hat durchgeatmet. «Danke. Wir kennen den Weg.»


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Drinnen sind wir allein. Ich lasse mich auf alle Viere nieder, und das war’s dann mit der Safari-Giraffe. Ingold seufzt, erleichtert und angespannt zugleich.

Das Schild ist leicht schief: ‹Butler Bunter›. Als Ingold die Hand hebt um anzuklopfen, öffnet sich die Türe.

Der Butler muss nahe der Achtzig sein. Sein Gesicht lässt einen die riesige Brille vergessen. Es zeigt Falten zu jedem bekannten und manch ungenanntem Gefühl. Die weite Stirn geht in einen fast kahlen Schädel über. Hinten fallen ihm die silbernen Haare bis zum Kragen des Hemdes. Die Augen hinter den Gläsern sind trüb wie ein Karpfenteich. Sie umfassen uns und gleiten ab.

«Seid willkommen!», sagt er, gerührt mit Überraschung, Freude, Verwirrung, Neugierde – und einer herben Selbstverständlichkeit. Seine Hand krault mich fest und vertraut hinter den Ohren. Ich springe neben Ingold auf das kleine Sofa, der Butler lehnt sich in seinem Sessel zurück.

Hat jemand Tee serviert, Biskuits? Durch das offene Fenster ergiesst sich ein verebbender Sommer. Vögel landen auf dem Sims, singen eine Strophe und fixieren mich mit starrem Blick. Das mächtige Haus scheint still und leer. Der Butler verweilt in einer Ruhe, die Ingold beunruhigt, soviel wird deutlich. Die beiden kennen sich.

«Und? Warum bist du hier?» Der Butler stützt seinen Kopf in die Hand und schaut zu uns, dann – seine Linke mit der Uhr anhaltend am Kinn – dreht er den Kopf zur Decke, zwei steile Falten in der Stirn. «Du willst etwas wissen. Ich frage mich. Wozu das alles?» Und aus einer frühen Erinnerung wiederholt er auf Englisch: «What is all this for?».

Ingold holt tief Luft. «Wie hast du das geschafft, Butler, dass du deinen Herrn verlassen konntest, das wohlhabende Haus, in dem es alles gab, was man benötigt und noch viel mehr? Du konntest ihm alles anbieten, was er verlangte und ihm tag und nacht zu Diensten sein. Du hattest ihm mehr als einmal das Leben gerettet. Seit Langem bist du selbst ein Gentleman, für viele. Wie konntest du all das zurücklassen?»

Der Butler sitzt wieder locker da. Er hat die Augen geschlossen und spitzt den Mund. Dann lacht er herzlich, laut, streckt die Arme aus, ballt die Hände zu weichen Fäusten. Er mimt den selbstzufriedenen Lehrer: «Du kennst doch deinen Einstein? Energie kann weder geschaffen, noch zerstört werden. Nur transformiert.»

Einmal mehr ist Ingold überfordert. Ich bedauere ihn: Er sucht eine Logik, ein Muster in diesem Puzzle aus Geschichten, den Schichten eines Menschenlebens. Butler, das weiß ich aus erster Hand, hatte ihm die längste Zeit seine Antworten vorgelebt. Von Mann zu Mann, von Körper zu Körper. Ingold aber war von Anfang an hilflos, verfangen wie eine Meeresschildkröte in einem losgerissenen Schleppnetz. Und was war sein quälendes Netz? Er zappelte zwischen den Knoten seiner Gefühle. Das Tier in ihm musste sich erst erheben, damit er sein Elend begreifen und sich aus den Maschen winden konnte.

Der Butler und ich grunzen gleichzeitig. Er fragt mich verschmitzt: «Vielleicht präsentierst du ihm deine ‹Multiple Choice für Veganer?›. Meinst du, das hilft?»

«Ich glaube nicht, aber man kann’s ja versuchen», murre ich, ihm zuliebe. Ingold schaut irritiert hin und her.

«Dann hört dies Rührstück über Emotionen», lamentiere ich. 

«Wir sind an einem Ort an der Küste im Nirgendwo. Ich ziehe mit einer Qualle und einer Cosplay-Nonne über die Fressmeile. Wir rasten. Die Zwei schauen fassungslos auf den abgenagten Knochen zu meinen Pfoten, auf die Fleischfetzen in meinen Schnauzhaaren.

‹Hier ist meine Auswahl für dich, du vegane Qualle, sagte ich. Mit einer Fangfrage: Welche der Spezialitäten passt nicht in die Reihe?

Schokohase. Butterschaf. Fleischvogel. Bisquit-Rabe. Nugat-Ei. Leib Christi.

Die Qualle wechselt die Farbe. ‹Das ist alles einerlei›, flappt sie. ‹Menschen fressen Hasen, Schafe, Vögel, Eier. Und gelegentlich auch einander. Nur einer passt nicht hierher: der Fleischvogel.› 

Ich nicke. ‹Der ist nachgebaut. Aus einem Stück Kalb, speckumwickelt, in der Form eines toten Vogels. Doppelfleisch, sozusagen. Du hast gewonnen, Qualle, das war die Fangfrage.›

‹Oh›, wispert scheu die Cosplay-Nonne, im Alltag Verkäuferin in einer angesagten Vegi-Metzg, in der sie Currywurst auf Schwammpilzbasis vertickt: ‹Ich hätte auf den Leib des Herrn getippt.›

‹Du scheinst dich auszukennen mit Männerkörpern, ausserirdischen›, sage ich. ‹Und ein Plätzchen, das dir auf der Zunge zergeht, verträgst du bestimmt auf leeren Magen. Obladi, oblada: Ihr habt beide gewonnen.›

Die Qualle und die Kostüm-Nonne zwinkern sich zu.

‹Der Knochen ist übrigens nicht echt›, bemerke ich. ‹Es ist Rinderhaut, gefüllt mit Pansen.›

‹Igitt!›, ruft die Nonne und hält sich die Hände auf den Bauch. Die Qualle wechselt schon wieder die Farbe.

‹Gefühle›, sage ich, ‹sie entscheiden über Ekel und Genuss›.»

Der Butler hängt versonnen in seiner Ecke. Er kann nicht mehr verlieren, er hat den Ausgang längst gefunden, er streichelt zurückgelassene Gefühle wie Kaninchenfelle. Seine Gegner sind ausgezählt, die Sparringpartner verstorben, Freunde hatte er nie. Dann scheint ihm etwas einzufallen. Eine Technik, wie man sich aus einem Schleppnetz erstickender Emotionen kämpft?

Er räuspert sich, hält den Kopf schief und betrachtet Ingold wie einen Panda im Bambushain: «Mein Lieber, erinnere dich an Grossmutters Gute-Nacht-Vers, ‹sind Ängste erst mal ausgeräumt, träumt es sich ganz ungeschäumt›. Und an ihren täglichen Abschiedsvers unter der Türe: ‹Ängste zwängste besser nicht; sie lösen sich im freundlich' Licht.›


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Zum zweiten Mal an diesem Tag wirkt Ingold wie jemand, der in sich zu einem abrupten Halt gekommen ist. Doch diesmal hat er keine Giraffe gesehen. Er ist aufgestanden und steht reglos vor einem breitgerahmten Spiegel, an der Wand gegenüber der kleinen Garderobe beim Eingang.

«Was bedeutet das?», fragt er fast tonlos. Der Butler erhebt sich mit einer fliessenden Bewegung, die sein Alter vergessen lässt. Er gesellt sich zu Ingold, berührt ihn an der Schulter – die zwei stehen Seite an Seite, etwa gleich gross.

Ingold zeigt aufgewühlt auf den eckigen Spiegelrahmen. «Was bedeutet das?», fragt er wieder. Seine Stimme ist stumpf vor Trauer. Um das Spiegelglas kleben weisse Zettel. Oben steht, in deutlicher Handschrift, ‹das bin ich›, rechts ebenso unmissverständlich, ‹c’est moi›, gegenüber ‹this is me› und unten in Latein, das der Butler nach wie vor beherrscht, ‹ego est›.

Die beiden Männer schauen sich im Spiegel in die Augen, Ingold mit Tränen. Der Butler schweigt und atmet ruhig. Schliesslich sagt er: «Irgendwann hatte ich mich nicht wiedererkannt. Die Zettel waren eine zeitlang nützlich. Dann fiel mir auf, dass ich schon als Kind vergessen hatte, wer ich war. Dass ich ohnehin nie wusste, wer ich war. Später, an einem Sonntagmorgen, als die Glocken der Kirchen rundum zur Messe läuteten, habe ich mich wohl in diesem Gesicht verloren. Ich konnte nicht aufhören, zu schauen. Und da ist es geschehen. Als die Glocken verstummten, sprach mich der Mann im Spiegel an. Er sagte: ‹Das bist nicht du.› Er sagte es ganz selbstverständlich, ohne jeden Vorwurf und in den Sprachen, die ich kenne. Am Ende lächelte er mich an, und ich spürte, wie ich zufrieden ausatmete. Wir winkten uns zu, wie alte Verbündete. Das ist nicht lange her, und ich lasse die Zettel kleben, zu meiner Erheiterung. Verstehst du?»

Ingold nickt wie in Zeitlupe. Ich hüpfe vom Sofa. Ein Abschied naht. Ingold umarmt den Butler. Vielleicht hält er ihn fest, vielleicht hält er sich an ihm fest. Der alte Mann strafft sich, tritt einen Schritt von Ingold weg und sagt so unbekümmert, als ob er eben ein beliebiges Bild in der Zeitung erkannt hätte: «Wie seltsam, dass du mein Sohn bist.»

Als wir durch die Verandatüre in den Park kommen, hören wir ein vielstimmiges, freundliches Murmeln. An den offenen Fenstern des grossen Hauses stehen Männer und Frauen. Sie winken, und sie freuen sich. Ich will nicht angeben, aber mir ist klar, dass ich als lebender Beweis aller geliebten Haustiere die Zuneigung dieser Alten empfange: ‹Hunde willkommen!›.

Wir gehen an überquellenden Blumenbeeten vorbei und an Büschen, die brennen vor ungestümem Leben. Wir treten durch ein umranktes Gartentor und stehen auf dem Parkplatz.

Als die Wagentüre ins Schloss fällt, schrecke ich mit Ingold auf: Draussen ist es dunkle Nacht. Von der Armaturenuhr leuchtet bernsteinfarben 0:00. «Mitternacht!?» Ingolds Verwirrung ist deutlich zu riechen. In was für einen Zauber hatte uns der Butler gebannt?

Ingold fährt los und streamt Musik. Spotify kennt ihn punktgenau. Eine Ballade entrollt sich so munter und zielstrebig wie ein Oktopus auf Nahrungssuche. Die Band singt von Eltern, die ihren Kindern die Hölle sind und von Kindern, die das Leben der Eltern zur Hölle machen. Und wie sich alle trotzdem lieben. «Déjà-vu», murmelt Ingold und entspannt sich in der eigenen, zerquälten Vergangenheit. Er hat ein Muster gefunden. Im Summen des Motors höre ich, wie er weint.

Dann gleiten wir über die Autobahn, und plötzlich reisst das nachtschwarzsolide Himmelsgewebe: Farbfontänen eines Feuerwerks weit vor der Frontscheibe fetzen durch Ingolds Melancholie. Selbstmitleid und Sehnsucht verglühen in einem bengalischen Feuer, das keine Reste kennt. Lautlos explodierende Lichtbänder am Horizont lassen Ingold endlich zu sich kommen. Eine Lichtwelle von Energie packt ihn von Kopf bis Fuss, lässt auch mich zufrieden brummen und katapultiert uns nach Hause.

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