Episode 3

Geschmack

Es kommt vor, dass Ingold und ich in einer Warteschlaufe von Ereignissen stranden und in den trägen Stunden hängen wie Korken im Wasser. Dann will ich meinen Zeitvertreib. «Ramón», sage ich, «schieb’ mir ein Comic-Heft rüber!» Ohne Murren taucht er aus seiner Meditation auf, grabscht im Notfallkoffer und reicht es mir. «Wieder die Nummer 17», sagt er milde, «passt’s?».

Ich weiss, er findet mein Geschmack sei abartig. Als Sapiens mag er recht haben, doch von Kokoros Universum kennt Dr. Ingold erst die Spitzen der Schnauzhaare. Aus meiner Lieblingsreihe Tagundnachtleiche – das sind vierundzwanzig Exemplare – hat er immer ein paar Zerfledderte dabei. Jedes Einzelne ist ein Gruselleckerbissen. Heft 17 ist mein Favorit und der Hund des Wirts mein Held. Hier die Geschichte – ich könnte sie auswendig erzählen:

Schmatzer des Grausens

Im grossen Säli fahren die Stockbergbuebe ihre Ernte ein. Gläser leeren sich im Basstakt. Die Handorgeln lassen sie tanzen, von der gehobelten Tischplatte an die feuchten Lippen. Die Stimmung schäumt. Das Männervolk umgarnt die Loreley, eine Ausländische, und die flitzt und webschiffelt und schiebt nach, was der Zapfhahn ausspeit.

«Lor’chen, deine Ohr’chen», jammert einer, unerhört.

«Lori, gopfertori, hier! Wo ist mein Bier?», lamentiert es von der Tür.

«Lore, Lore, Loreley, küsse mich, bevor ich schrei’». Das ist Walker.

Loreley, achtundzwanzig, von mancher Saison geschüttelt, bleibt ungerührt: «Walker», ruft sie kokett in der lokalen Art, «erst im Ehestand bin ich deiner Such’ zur Hand.»

Der Angetönte klönt, die Bueben polken flott in die Nacht, und das grosse Säli kocht in Wonne.

Im kleinen Säli aber, die Musik gedämpft und durch die Wand geknödelt, hocken drei Ländlertypen: Stork, bekannt als der Helle, Ramsauer, der Grenzwächter, und der Japanesische, Katsuo. Zu seinen Füßen der Hund des Wirts. Sie sitzen am Tisch mit der Eckbank, Schnapsgläser vor sich und in der Flasche genug Gebranntes, um auch letzte Fragen zu klären.

Der Hund liegt auf dem zerfurchten Parkett und hat sie alle im Auge. Stork hängt in seinen Träumen. Katsuo, mit geradem Rücken im Osten, hinter ihm die leere Wand. Ramsauer linst mit einem Auge durch den dicken Schnappsglasboden und schnieft, weil der Hund dort verbogen, wie ein Stofftier, erscheint.

Beim Ausgang an der Wand rennt ein grünes Männchen auf dem Schild um sein Leben, heraus aus der Not. Daneben steht ‹WC›, mit einem Pfeil zur Türe. Wenn abgeschossen, durchbohrt er das Herz des Erstbesten, der hereinkommt. Es ist der Wirt.

«Zum Diebold», beginnt er, noch im Stehen. Zieht einen Stuhl heran, greift in die Hosentasche, holt eine Leckerei heraus, hebt die Hand gegen den Hund und zeigt die Zähne: «Fass!» Er feixt. Der Hund hat die getrocknete Sauerei, ein Schweinsohr, mit einer Kopfdrehung verschluckt. So wie ein schwarzes Loch einen Stern verschwinden lässt: lautlos. Er wedelt anerkennend, bettelnd. Das ist sein Wirt!

«Also», wiederholt der, «Hatte man dem Diebold nachgeholfen?»

Ein Brüllen der Begeisterung hinter der Wand. «Die nehm’ ich wieder», sagt der Wirt, «D’ Buebe sind den Kies wert». Er zwinkert, vor Müdigkeit, vor Gier, vor Neugier: «Diebold?». Alle Gläser klargemacht. «Zum Wohl!». Das Klacken, aus dem Takt. Der Bass, ein steter Puls.

«Das war eine Mutprobe, schon immer», sagt Stork. «Diebold kauerte auf einem schmalen Brett, das an der Rückwand der Grube festgemacht war. Eine Luftklappe nah über seinem Kopf. Im gedeckten Güllenhaus. Wir anderen standen vor dem offenen Verschlag und starrten auf die unbeschreibliche Brühe.

Ist ja eine ganze Weile her. Ich meine, wir waren alle drei käsig und hatten weiche Knie vor Ekel. Du schaust da rein und siehst diese Jauche, an der Oberfläche grünlich fleckig wie altes Kupfer. Sie war tief, die Grube, ein Mensch geht da unter, sackt ab, ein paar Blasen, dann bist du weg, für immer.

Diebold machte es uns vor. Er liess seine leere Bierflasche aus der Hand gleiten. Sie fiel platschend, lag einen Moment auf der Güllenfläche; wir starrten und meinten zu wissen, wie es weiterging. Doch verlangte der offene Flaschenhals nach der dicken Brühe oder liess die Jauche die leere Flasche kreiseln? Plötzlich ein Schmatzen: die Öffnung, die Gülle – hinein. Voller und voll die Flasche; sie sank wie ein Stein.

‹Herein, ihr Feiglinge!›, rief Diebold. ‹Aber die Luft anhalten, bis ihr hier hinten seid. Das Gas verschont keinen›. Er lachte geniesserisch. Diebold, in der Hocke, liess uns dastehen wie Hosenscheisser.» Stork verstummt.

«Der Gestank, Scheisse; wir kannten alle Varianten.» Über Ramsauers Gesicht geht eine Welle von Abscheu und Ehrfurcht. «Er lauert in der geschlossenen Grube. Sobald du den Verschlag öffnest, trifft dich die gestaute Giftwucht mitten ins Gesicht. Der Atem stockt im Reflex, aber es ist zu spät. Stinkende Teilchen fräsen sich in dein Hirn und schlagen im Bauch ein wie Hagel. Dir wird kalt, du willst dich wehren, aber wie? Aus der Grube steigt eine Wolke, und sie will dich töten. Du musst Luft holen. Die Fäulnis bricht dich auf und beginnt sogleich mit deiner Verwesung.»

Katsuos feuchte Hand gleitet nach unten, und der Hund versteht. Voller Zuneigung leckt seine Zunge die Scheissangst von der Haut.

Hunde kennen Kot. Er lockt sie. Als Welpen floss Milch von oben in sie hinein und verfestigte sich in ihnen – was nicht gebraucht wurde, verliess ihre Körperchen. Sie hatten ein Vergnügen daran, alles wieder aufzufressen, was sie hinten hinauspressten. Das war für sie nicht übel riechend und erregte kein Grausen. Mit dieser Erfahrung kann später einer Kacke in aller Form begegnet werden: Offen, zugewandt und wie nebenbei.

Präzise erschnüffelte auch damals der Hund die bedrohliche Wolke. Seine Nase lotete sie aus, vom Eingang her, über die schmierige Schwelle ins Innere, nur eine Haaresbreite über dem trägen Geruch und weiter, bis zur Rückwand mit der schmalen Klappe und dem Brett, wo Diebold wartete und grinste. Die Zunge des Hundes fuhr über die eigene Schnauze und schleckte die winzigen Kotteilchen auf. Und er blieb, wo er war, nicht weiter beeindruckt.

«Ja, wird’s noch?», lockt Diebold.

«Linke Seite oder rechte? Hält das Brett?», Stork, seine Stimme fest, beide Fäuste vor dem Magen.

«Egal», lacht Diebold. «Her mit euch, ihr Ländler, hier stinkt jeder.»

«Verstehst», sagt Stork zum Wirt und um Verständnis bittend, «eine Mutprobe auf Leben und Tod». Der füllt nach, nickt.

Sie einigen sich wortlos: Ramsauer links, rechts Stork. Katsuo wartet beim Hund, um den Bauern zu holen. Wenn.

Diebold verschätzt sich. Als seine Tollkühnen von den Seiten her näher kommen, beugt er sich achtlos vor. Storks Planke knackt, er verharrt starr, nur eine Körperlänge vom Eingang entfernt. Ramsauer auf seiner Seite verliert die Ausrichtung, sein Blick irrlichtert. Er drückt sich an die Wand, dreht sich zum hellen Viereck. Beide fliehen, staksig wie Marionetten: bloss raus hier!

«He!», ruft Diebold, sein angetrunkenes Gesicht im schrägen Winkel über der Jauche, sein Mund über der Gülle, seine Nasenlöcher gebläht. Er atmet abrupt ein. Es erwischt ihn wie eine Schlinge um den Hals eines Kalbs.

Stork torkelt hinaus, fällt auf die Knie, kotzt. Auch Ramsauer erreicht den Vorplatz, weiss wie Schnee. Eine Hand auf dem Bauch, eine vor dem Mund. Er würgt. Katsuo rennt um Diebolds Leben. Der Japanische und der Hund hetzen zum Noteingang, zum Bauern. Als Stork den Kopf hebt, meint er zu sehen, wie ein dunkler Pfeil Diebold ins Herz fährt. Sie hören ein Schnaufen wie von einem, der seinen Letzten tut.

Dann kippt Diebold vornüber. Seine Arme strecken sich dem dickflüssigen Tod entgegen, die gespreizten Finger suchen einen Halt dort, wo alles nachgibt. Mit entstelltem Gesicht fällt er hinein, in die Auszeit. Stork und Ramsauer verlieren augenblicklich jede Fähigkeit zur Wahrnehmung, ausser der punktgenauen Fixierung einzelner Kiesel auf dem Boden vor ihnen.

Sie berichten später übereinstimmend, dass eine Lähmung über sie kam und sie nichts mehr spürten; keine Kotze im Mund, kein Erbrechen. Dass sie dort auf dem Kiesplatz nichts mehr fühlten, auch keine Furcht. Dass da nur ein Gedanke blieb, kurz wie ein erstickter Ruf: Diebold versinkt!

Als der Bauer herbeistürzte, den Hund und Katsuo hinter sich, lag Diebold bereits unsichtbar in der Tiefe, bewegungslos, die Lungen verätzt. Die Jauche hatte jeden Hohlraum gefunden, jede Ritze gefüllt. Dieser Körper gehörte ihr.

Im kleinen Säli klacken die dickbodigen Gläser. Der Wirt sitzt mit dem Hellen, dem Grenzwächter und dem Japanesen um den Tisch. Durch die Wand wummert Jetzt wird gfäschtet, der Bass treibend, die Handorgeln prustend vor Heiterkeit. Im grossen Säli tanzt der Bär. «So ist’s recht», brummelt der Wirt.

Die Verbindungstür wird geöffnet, einer steckt seine Nase in das, was ihn nichts angeht. Er schaut betrunken zum Tisch, grient verlegen, dreht sich ab, schliesst die Türe. Deutlich hört man von drüben, wie sich wieder ein Hiesiger anbiedert: «Lore, Lörchen, noch ein Börchen!».

Und Katsuo, zum ersten Mal an diesem Abend, zeigt ein Lächeln. Sein Angebot war nicht der Ehestand gewesen. Er hatte einfach den Asiaten präsentiert, der er war. Sie hatte keinen Tag gezögert.

Die Stockbergbuebe spielen mit ihrem Völkchen, wirbeln Paare im Kreis, ziehen Ineinandergehängte in Schlangen um die Tische, den Wänden entlang, lassen Hände in Blusen greifen, Finger in Hosen, lassen mehr kaltes Bier fliessen und die Hitze weiter steigen.

Loreley webt ihren Glücksteppich in den Blicken, den Zurufen und ihrem eigenen Gleiten durch den Raum, und sie glüht im prallen Begehren. Die Welt ist schön.

Ah, die 17! Einmal mehr bin ich begeistert. Ich pruste und schiebe das Heft entspannt zurück zu Ramón.


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