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Episode 1

Ein Ochsenfroschgeist wird unschädlich gemacht

So. Ich gehöre nicht zu den Lauten. Knurren genügt. Und Ingold hat verstanden, dass wir hier auf die ruhige Tour vorgehen werden. Bevor die nächste Panik ihre Krallen in die bunten Betonwände unserer Siedlung schlägt und nicht nur Kleinkinder schreien. Bevor sich ein weiterer Expat von der Dachterrasse stürzt und Jugendliche vor vertrockneten Blutflecken diskutieren, wann jemand hinüber ist, voll im Jenseits, ohne Comeback. Und sicher bevor Amar, der Hauswart, an jeder Ecke von seinem kleinen blauen Traktor steigen muss, um Trost und Zuversicht zu spenden. 

Wir sind bei Frau Diessenhofer im Altersheim gleich hinter dem Bahnübergang. Sie sagt, ihr sei schon im Juni klar gewesen, dass uns das Ende unaufhaltsam überrollen werde. Wörtlich: «Es wird ein Untergang auf Rädchen.» 

«Wie, Frau Diessenhofer, auf Rädchen?»

Meist überlasse ich Ingold das Plaudern. Menschen, die sich verstehen möchten: Das ist wie winselnde Welpen unter Wolldecken! In meiner Nase kitzeln längst die Details.

Die Alte nestelt in der Jackentasche und sucht nach Worten. «Wie – wie ein Schnellzug, der durch einen verlassenen Bahnhof donnert, mit dir zwischen den Gleisen, im Schock. Ich bin die Kathrin. Zimmer 318. Die Drei meint den dritten Stock. Es ist wegen dieses Ochsenfroschs im Biotop, darum. Der ist nicht normal.»

«Ja? Ein Ochsenfrosch?»

«Ja. Du hast ihn bestimmt schon gehört? Seit Juni?»

«Hm. Die Frösche quaken, wie immer.»

Ihr Blick wird scharf und schält Ingold wie ein Mandarinchen. Sie riecht schon deutlich nach Sympathie für einen Ramón, von dem sie nur schwärmen kann. Er wird sie über die letzte Schwelle tragen und mit ihr hinausspringen – hinein in jene kribbelnde Leere, in der Träume sich auflösen wie laichende Lachse am Ende ihrer Reise.

Doch sie beißt nur an, wenn sie sich ihm nicht unterwerfen muss. «Das hört Ihr doch auch, dort drüben in Euren farbigen Wohnkästen. Als der Ochsenfrosch loslegte, floh die Füchsin mit ihren drei Kleinen, und die Katzen des Heims rieben sich verärgert über die Ohren. Eine Fledermaus fiel vom Dachvorsprung und verfehlte mich um ein Haar. Am Vierten war Vollmond, da habe ich ihn sogar gesehen. Auf meinem Balkon darf ich rauchen. Es war 3 Uhr 18, wenn du’s genau wissen musst.

So kann kein Tier! Ich dachte, ein Fass übergäriger Most sei geborsten. Das Schilf zerriss. Eine Schleimwelle floss über unseren Fußweg. War ich froh, in der Höhe zu sein. Er brüllte wie damals, als sie auf dem Hof den Ochsen – darum der Name, sicher. Aber hast du je einen Frosch auf den Hinterbeinen auf dich zukommen sehen? Riesig, das Maul aufgerissen, so laut wie mein besoffener Onkel, früher. Ich habe die Zigarette ausgedrückt und mich verzogen. Das Gebrüll verbog die Scheiben meiner Balkontür. Wenn ich hinsah.»

«Kathrin, warum ein Untergang?» 

Ihre Hand hält sich an Ingolds Ärmel fest. Sie schaut zum Biotop. «Der Mond schien im Teich als ich später wieder zu rauchen wagte, im Freien.»

«Und?»

«Da war nur noch eine Sichel. Abnehmend.»


🀄︎


Etwas später, auf einer Bank am Rande des Teichs, spricht Ram mit sich selber. Mit einem Ohr höre ich, wie er versucht, mit Kathrins Geschichte ins Reine zu kommen. Mein anderes Ohr registriert ein Gewisper aus dem nahen Schilf und ein Zischen über dem Wasser. Unter meinen Pfoten zittert die festgestampfte Erde; die zugewandten Birken stoßen Rindenstreifen ab wie Schwimmringe für Ertrinkende. Die Dämmerung fällt in die beleuchteten Fenster der Siedlung. Aus einem der verlassenen Bürotürme glotzen Neon-Augen. Die rote Warnleuchte auf dem Sendemast blinkt, ohne automatische Drehung, auf den Teich; mögen die Flugobjekte ihren Weg allein finden.

Ram seufzt. Er denkt nach und krault mein Kinn. Ich summe ein Lied unserer Ahnen. Es stammt aus jener Vorzeit, als wir begannen, das Verhalten der Menschen zu beobachten. Und von ihnen zu lernen. Eine sehr einseitige Geschichte, wie wir heute wissen.

Die Welt ist schön, der Mensch so dumm und die Natur gewaahaltig!

«Ko-chan, du heulst wie ein Wolf.»

Mein Assistent hat es geschafft, dass wir uns austauschen können. Er seufzt schon wieder: «Wie kommt es zu all dem Bösen? Liegt es an uns? Weil wir in sämtlichen Gebieten des Wissens vielleicht drei Prozent vom Ganzen verstehen? Und uns schubsen und stoßen und quälen und töten? Hm, ich gehöre auch zu ihnen. Und doch nicht.»

Ich spreize meine Vorderpfoten und beäuge die Krallen. Ich heule wie ein Wolf? Ram, das war ein Summen! Meine Nase riecht nach allen Seiten, dann weiß ich genug über die Umgebung und das Monster.

Ich fasse zusammen: Heute ist ein lauer September-Abend, der halbe Mond will wachsen, und seit Juni erschreckt ein riesiger Ochsenfrosch alle, die sich in der Umgebung des Biotops herumtreiben. Ein Mann kam zu Tode. Und Frau Diessenhofers Bericht sagt unmissverständlich, dass wir es mit einem Dämon zu tun haben. 

Die Sorte kenne ich. Es sind halb-domestizierte Wesen. Menschliches Elend verleiht ihnen die mächtige Gestalt. Kindliche Verzweiflung gibt ihnen ihre Festigkeit. Und eine dräuende Ungewissheit verschafft ihnen Lebenszeit.

Kratzt Euch jetzt nicht am Kopf, Lesende, Ihr glaubt vielleicht, dass ich bloß eine merkwürdige Hündin bin. Ich sag’ mal soviel: Zwischen Teilchen und Wellen ergeben sich ungeahnte Möglichkeiten. Nicht nur für uns.

Natürlich hat uns der Dämon belauscht. Ich weiß, wie ich ihn packe. Mir braucht niemand einzuflüstern, wie diese Ungewissheit zu beenden ist. Und damit seine Lebenszeit. Ich tappe auf den morschen Steg.

Seine Augen sind in Sprungweite über dem trüben Wasser. Er blinzelt. Dann schiebt er sich vor, hebt seinen massigen Schädel vor den Mond und keucht. «Hey Ko!»

Was soll’s, er kennt meinen Namen – doch unhöflicher kann man mir nicht kommen! Sein Unterkiefer klappt auf, und ich sehe, was er vorhat: mich auf seine drei Zähne zu spiessen wie einen haarigen Käfer.

«Ich musste mich hier niederlassen», krochelt er, als ob ich ihn danach gefragt hätte. «Die Atmosphäre war einfach unwiderstehlich.» Die Vergangenheit macht sich schon breit in ihm. Er scheint um sein Ende zu wissen. Aber ohne Kampf gibt er nicht auf.

Ihr habt bestimmt schon zugeschaut, wie unsereiner mit einem Stück Fleisch klarkommt. Unsere Fangzähne reissen es in Fetzen. Das hier ist vergleichbar. Fast.

Der Ochsenfrosch schießt auf mich zu, und ich katapultiere mich Kopf voran in seinen weichen Gaumen. Er stemmt sich hoch, die Schwimmflossenhände kleben an mir wie aufgeweichtes Brot um einen Hotdog.

Als er aufrecht im Wasser steht und die Patschen lockert, um mich in sein Maul zu werfen, wird es einfach. Ihr wisst vermutlich noch, wie man sich schwer macht als Kind, damit es zwei Erwachsene braucht, um einen hochzuheben (weil ein Elternteil allein der Widerspenstigen den Arm auskugelt)? Ich schlage meine Eckzähne in seinen Hals, er erschrickt und lässt los. Ich lasse mich fallen, halte mich auf Spur mit den Krallen und rausche schneller nach unten als ein Aufzug in der Siedlung. Seine Haut ist nass und glitschig von Algenschleim und gibt nach wie alter Kautschuk. Als ich seinen Bauch aufschlitze, sinkt er brüllend in die Knie. Die Vorderseite ist von oben bis unten aufgerissen. Als Letztes strömt Wasser aus dem offenen Maul; der Dämon hat seine Form schon verlassen.

Und dann sehe ich ihn, den Wirt, einen harmlosen Ochsenfrosch, der alles wundersam im Darm des Monsters überlebte. Als letztes Lebenszeichen schiss ihn der Dämon in den Teich. Der Kleine hüpft benommen auf einen Stein und duckt sich so tief er kann. «Besten Dank auch, Kokoro-sama,» röchelt er so dezent wie möglich und taucht mit einem Platsch außer Sicht.


🀄︎


Ingold hat ein Händchen für Verflossene. Eben unterhält er sich mit einer durchscheinenden Gestalt im Schilf. Es ist der Expat aus Paris, der sich im August von der Dachterrasse seiner Wohnung gestürzt hatte. «Die Kinder sind noch so klein», stöhnt er. «Ich hoffe, meine Frau ist stark genug. Werden sie es je verstehen?» 

Ingold ist emphatisch: «Später, wenn ihr Erleben es erlaubt.» Dann, mit harter Stimme: «Und du hilfst ihnen! Aus deiner verdünnten Welt. Sie brauchen deine Unterstützung.» Jetzt weint der tote Expat. Ingold streckt seinen Arm aus, greift in die Geistgestalt hinein und sagt in spöttischem Ton: «Reißen Sie sich zusammen, Monsieur!» Und beide kichern wie Jungs, die etwas geraucht haben.

Ich habe mich geschüttelt, mir die Pfoten geleckt und liege auf der Bank, zufrieden mit dem Lauf der Dinge. Dann höre ich die Zeugen.

Eine kleine Gruppe Jugendlicher aus der Siedlung murmelt und schubst sich aus der Erstarrung. Es sind Pablo, Marc, Ricky und Jezz, ihre Anführerin. Marc hat alles gefilmt. Sie starren auf den Bildschirm des Smartphones.

«Krass», sagt Ricky.

«Das wird uns keiner glauben», sagt Pablo.

«Der kommt nicht wieder», sagt Marc, doch seine Stimme klingt brüchig.

Ramón geht auf sie zu. «Zeigt her!», befiehlt er, und sie scharen sich um ihn wie Küken um die Henne. «Gut», meint er und strafft sich. «Das gibt kein Comeback!»

Sie atmen aus.

«Wie heißt der Hund?», fragt Pablo.

«Das ist Koko-san», sagt Ram. «Es ist eine Sie.»

«Bad ass bitch!», flüstert Jezz anerkennend.

Von einem Balkon im dritten Stock des Altersheims steigt leichter Rauch in den Nachthimmel, und eine Frauenstimme singt: «Die Welt ist schön, ich bin nicht dumm, und die Uhr, die tickt gewaahaltig».

🀄︎