Episode 4

Das Orakel der Klinik von Mammern

Ein Orakel-Rezept

Pfingstsamstag, 15:30 Uhr. Die Gründe, warum ich mit neunundzwanzig Jahren in die Klinik eingeliefert werde, sind platter als überfahrene Kröten auf einer nassen Strasse. Das Überweisungsschreiben meines Vaters, eines Internisten, ist so korrekt wie er selbst. Ich nehme an, er notierte einige der notorischen Risse in der Mauer der Vernunft, durch die unsereiner aus jeglicher Kontrolle gesogen werden kann. Als ob ich auf meinem Flug von Bordeaux nach Zürich eine Kabinentür geöffnet und nicht bloss mit der Flight-Attendant die Details dazu erörtert hätte. Niemand will in Abgründe blicken.

‹O.s Verstand barst rückblickend vermutlich schon beim ersten Aufprall im Alltag. Wie ich Anlass habe anzunehmen, geschätzte Frau Kollega›. In der Weise hat er sich ausgedrückt zu meinem anekdotischen Porträt, eingenebelt im Code psychiatrischer Diagnosen. Mein Vater, Edelster unter den Männern: sein Haus, sein Pferd, sein Kirschbaum und er. Das ist der komplette Text in einem Song von J.X. Fussell; meinen Vater habe ich an die Stelle gesetzt, wo Fussel von General Washington singt. Mehr ist dazu nicht zu sagen.

Die Chefärztin empfängt mich persönlich. Sie redet mit mir, als ob sie eine Sport-Legende mit zu vielen Hirnerschütterungen vor sich hätte. Ihr Gesicht kann ich nicht lesen, doch was sie nicht sagt, verstehe ich deutlich: Das war’s dann, diese Fälle enden alle gleich, tut mir leid.

Als sie sich abdreht und nach einem Rezeptblock greift, bemerke ich hinter den beiden Krügen mit den Hanfpalmen den Schatten eines Kindes. Frau Doktor weiss bereits genug von mir. «Hier finden Sie die notwendige Ruhe. Erholen Sie sich und unternehmen Sie nichts ausserhalb der Klinik. Geniessen Sie unseren Park mit seinen alten Bäumen.» Sie beugt sich vor: «Und vor allem, schonen Sie Ihr Gehirn.» Ein Windstoss durchs offene Fenster lässt die Palmblätter flirren.

Ein Pfleger begleitet mich auf mein Zimmer im ersten Stock, komfortabel wie in einem erstklassigen Hotel. Die Fenster stehen weit offen, Leinengardinen bewegen sich in hypnotischen Wellen vor kunstvollen Gittern. Der Pfleger nickt höflich zum Abschied und zieht die dicke Türe hinter sich ins Schloss.

Die erste Nacht springt mich an wie eine Raubkatze, die ihr Junges retten will. Ich werde im Genick gepackt, wir brechen durch das Fenstergitter: Es gibt nach wie ein Scherenschnitt aus Papier. Ich kann nichts mehr sehen, der Geruch ist durchdringend, ich höre die Wellen vom Ufer des Bodensees – dann falle ich so hart auf den moosigen Grund, dass es mir den Atem verschlägt. Ich muss im Park der Klinik sein. Vor mir ragt ein Mammutbaum tief in den Himmel hinein, ein kalk-weisser Mond beleuchtet uns wie ein Scheinwerfer die Bühne. Ich dehne mich, sitze und greife an meinen schweissigen Nacken. Von einer Raubkatze fehlt jetzt jede Spur.

Dann berührt mich etwas. Ich bekomme Gänsehaut; ist es Kälte oder Hitze? Unwillkürlich springe ich in die Höhe.

Die Luft lädt sich auf wie vor einem Blitzschlag, mit einem Geruch von geraspeltem Eisen – und Öl? Ohne Widerstand dringt die elektrische Spannung durch die Haut, in meine Muskeln. Die Knochen lassen sie innehalten, sie verdichtet sich, sammelt sich: eine Scharfrichterin, die zum Schlag ausholt.

Das ist dominanter als alles, was ich je mit Drogen erlebte. Ich bin vollständig nackt. Geschockt realisiere ich, dass ich vor dem Mammutbaum stehe und gleichzeitig unter seinen hohen Ästen auf dem Boden liege. Hitze! Was immer mich berührt, brennt mich.

Aus der Perspektive einer Maus muss ich zusehen, wie sich eine Schlange aus kupferleuchtendem, flimmerndem Metall um meine Hüften schlingt, um meine Brust, um die Schultern. Von oben herab fixiert sie mich, mit Augen ohne Lidschlag. Nein, das ist keine gewöhnliche Schlange. Sie hat den Oberkörper einer jungen Frau. Sie zwingt meinen Atem flach und unterbindet jede Bewegung. Ihr starrer Blick lähmt mich. Wo bin ich? In ihr und ausser mir? Panik lässt meine Halsschlagadern pochen. Was hatte man mir zur Klinik verschwiegen?

Mir ist übel, übergeben kann ich mich nicht. Als sich mein Darm leert, schneidet ihre Stimme in mein Gehör wie eine Klinge. Sie ist so fein, scharf und unerbittlich wie ein japanisches Fischmesser. Sie gleitet reibungslos durch mein Gehirn, filetiert logische Muster, schreddert alles Gelernte, massakriert jeden Gedanken, der sich ihr entgegenstellen will. Ausser diesem: Das ist eine Naga, halb Dämonin, halb Göttin, und der Mammutbaum ist ihre Wohnstätte hier. Hatte ich geglaubt, Nagas lebten ausschliesslich in Asien?

Ich höre aussen ein sirrendes Zischen und einen Singsang in meinem Kopf. «Willkommen, merkwürdiges Menschenwesen. Du wirst heute zum Orakel. Deine Voraussetzungen sind gut. Höre mein Lied zu Ende. Du wirst geniessen, was wir beide als Nächstes tun. Siehst du die Amphore, an meinen Baum gelehnt? Dort drin geschieht deine Verwandlung. Sie dauert bis zum Morgengrauen. Dann bist du das Orakel im Park der Klinik von Mammern.»

Als sie ‹geniessen› sagt, spüre ich einen Stich unter dem Brustbein. Schlagartig bin ich nur noch in mir. Meine Augen schliessen sich in einer Seligkeit, die mir für den Bruchteil einer Sekunde absurd vorkommt. Das Glücksgefühl überwältigt mich wie eine Opiumwelle. Ich tanze in ihren Flammen. Ich weiss, was mich umschlingt, aber ich meine, in ihren Armen zu fliegen. Ich vernehme, wie ihre Stimme meinen Verstand zerlegt wie Sushi, doch ich schwelge mit allen Sinnen in ihrem Lied. Das mein Ende bedeutet, soviel scheint mir klar.

Orakel? Ich verstehe nicht, was sie vorhat. Die Amphore erkenne ich deutlich. Ein fast mannshoher Krug aus gebranntem Ton, wohl als Dekoration für die Parkgänger an den Mammutbaum gestellt.

«Ich bereite dich nun für das Gefäß zu. Es ist mit Öl gefüllt und für deine Größe passend. Wären da nicht diese hinderlichen Knochen, das überholte Skelett! Dein Schädel geht durch die Öffnung, die Schultern jedoch und die Hüften nicht: Dort müssen wir die Härte auflösen, Vorstehendes brechen, Ecken zerdrücken, Kanten zerbröseln, die frühe Geschmeidigkeit wieder herstellen. Das Orakel soll schmiegsam und wendig sein.»

Was von meinem Verstand übrig ist, löst einen Alarm aus. In ihrem Lied waren eben Stellen, die mich am ganzen Körper in Schweiss ausbrechen lassen. Da senkt sich ihr liebliches Gesicht vor meines. Sie schürzt die Lippen und haucht in meine Nase. Meine Anspannung fällt in sich zusammen wie ein Kugelfisch, der sich wieder sicher fühlt. Dann sagt sie, exakt den Tonfall der Chefärztin imitierend: «Ach ja, deine Ängste. Keine Sorge. Natürlich wird es nicht wehtun! Schmerz ist für uns noch sinnloser als Knochen.» Sie löst ihre Umklammerung und lässt mich wieder frei atmen. Und dann geschieht es.

Die Geräusche der Zerstörung höre ich von weit weg. Wie ein träger Fisch schwebe ich über dem Seeboden. Stellenweise greift ein Algenarm nach mir. Im Wasser ist ein wundersames Summen; es kitzelt mich auf allen Seiten. Doch unerwartet erfasst mich eine starke Strömung und wirft mich in eine Bucht voller Schlick und Öl.

Der Singsang fährt in meine Wahrnehmung wie ein Donnerschlag. Ich hänge fast gewichtlos in der Amphore, in Öl getaucht bis zum Kinn. Meinen Körper spüre ich nicht, habe aber den Eindruck von einem fetten Pendel, das an meinem Hals hängt. Ich schaue über den tönernen Rand und sehe die Naga direkt vor mir. Lächelt sie wirklich? «Das ging fast von allein», sagt sie. «Mein Orakel! Die Gewöhnung setzt bald ein, bei deinem kleinen Gehirn schon in wenigen Stunden. Kannst du sprechen?»

Ich bewege die Lippen, die Worte kleben an meiner Zunge. Endlich höre ich die eigene Stimme, seltsam unberührt: «Wer bin ich?» Die Naga starrt mich bloss an. Dann wird die Luft dick wie vor einem Blitzschlag, und sie zieht sich mit einem Knistern in den Mammutbaum zurück.

Wieder und wieder erklingt meine Stimme durch die Nacht, ohne Worte, in einem Klagen, das unendlich scheint.

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Ein Auftrag von einer Stimme, der niemand widerstehen kann

Pfingstsonntag, 06:12 Uhr. Seine Stimme ist ein Ohrwurm. Kitzelte mich schon öfter. Kratzt tief innen wie die selbst gedrehten Zigaretten, die er raucht – seit seine prallen Finger es schaffen, dass ihm die Tabakmischung nicht aus der Tüte rieselt. Ja, Tüte: In seinem schweren Tonfall schwingt eine Ladung Shit-Sound mit. Er wiegt bestimmt über hundert Kilogramm, und seine XXL-Jerseys riechen nach Curry, mit einem Wölkchen Gras und dem Duft von Zuckerwatte, der typisch ist für Menschen, die gerne lachen. Gesehen habe ich ihn noch nie, doch mein K9-Gehör liefert präzisere Daten als ein Profiler im Secret Service. Dass seine Muttersprache in einem National Park wurzelt, weiss man nach der Begrüssung. Mein Auftraggeber ist stolz auf seine Ranger-Stiefel, erzählt Anekdoten wie ein versengter Feuerwehrmann und hat den Ruf als ‹Bull’s Eye-Schütze› mit eigenem Waffenschrank.

«Kokoro-San, können wir uns auf dem Wasser unterhalten oder gibt es da ein Problem?»

«Ich schwimme wie ein Seepferdchen, und mein bester Kumpel ist ein Lagotto», sage ich gut gelaunt. Und bei Ihnen ist es wohl der Auftrieb? Das verkneife ich mir natürlich. Denn jemand, der einem ‹gibt es ein Problem?› unterschiebt, serviert eine nützliche Information: Er weiss zu wenig von Dir – und will die Oberhand behalten. Nun, mein kitzelnder Ohrwurm, rede einfach weiter.

Er hustet. «Heute um acht Uhr? Kommen Sie zum Pier in Mammern. Dort wartet ein Boot auf Sie.» Nicht überraschend hat er aufgehängt. Ein Boss!

Pünktlich sind wir auf dem Bootssteg für Anspruchslose; Ramón, der sich ans Geländer lehnt und ich, ausgestreckt auf dem kühlen Zement über dem Bodensee. Er murrt. «Es ist Pfingstsonntag. Heiliger Geist! Wieso muss ich dabei sein? Warum weisst Du, dass er nicht acht Uhr abends meinte? Auf wen warten wir hier? Ich sehe nur Geflügel, Vogeldreck und plattgetretenen Kaugummi.» Rams Laune wird ständig schlechter. Möwen auf dem Laternenmast schreien ihn an. Eine Ente watschelt ihm dösig vor die Füsse und stürzt sich ins Wasser, als sie mich sieht.

Wie aus dem Nichts erscheint ein schmales Aluboot. Eine massige Gestalt rudert es so lautlos, dass ich den Kopf hebe. Ramón steht hellwach neben mir. «Was ist das?», er reibt sich den Schädel. «Eine Schildkröte? In einem Hoodie?» Das Boot stoppt mit einem perfekten Schlenker unter uns. Die Gestalt keucht: «Springt rein und ab auf die Hinterbank. Festhalten.»

«Auch Ihnen gesegnete Pfingsten», sagt Rams, als wir sitzen. «Ich bin Dr. Ingold, und neben mir liegt Kokoro-San, meine Chefin. Wohin geht die Reise? Wie lange werden wir unterwegs sein? Und wer sind Sie?»

Die Gestalt schnaubt und packt die Ruder. Mit ihren Flossen? Dann scheinen wir über den See zu fliegen, eine Handbreit über der Gischt und einem fischhungrigen Rotmilan so nah, dass ich seine rosa Zunge im offenen Schnabel sehe. Ramóns weisse Knöchel und die gepressten Lippen tun mir leid; ich robbe auf seine Füsse. Er zwingt sich zu einem Grinsen.

Abrupt steht die Welt still. Wir schauen beeindruckt auf die dunkle Sweater-Gestalt vor uns. «Nutzt die Leiter», rochelt sie. «Langes Leben!» Über uns krängt ein – Hausboot?

Wir stehen hinten auf dem Deck. Ramón lässt ein Schnalzen hören. Wir schauen auf eine Kreisfläche aus getrocknetem Ton, gut vier Meter im Durchmesser, in einem Ring aus geflochtenem Stroh. Ausserhalb liegen flache, harte Kissen auf dem dunkel-polierten Holzboden.

Über der vorderen Hälfte des Decks schwebt eine Konstruktion, die auf der Rückseite im Bootsrumpf verankert ist. Sie ist viereckig, aus Planken gezimmert. «Walnussholz», meint Rams anerkennend. Er ist elektrisiert: «Das ist ein Teehaus, eine Zuflucht in der Wüste menschlicher Zerstörung. Das Original hat der Japaner Isoya in den 90er-Jahren in Taliesin West gebaut.» Den Blick ins Innere verhindern abgedunkelte Fensterfronten.

Das Holz riecht so unwiderstehlich, dass ich daran lecke: zerriebene Käferpanzer, Mandelleim, Algenschleim, eine Spur Vogelkot und bittere Walnussbutter. Ramón lacht. Vom vorstehenden Dachbalken hängt ein Schild: ‹Welcome›. Darunter ein Bild von fünf Fischen: Jeder frisst den nächsten; der grösste, links, ein Hai, der kleinste, rechts aussen, ein Hering. Jetzt habe ich Hunger.

Da kitzelt mich der Ohrwurm. «Kokoro-San, Dr. Ingold, bitte treten Sie ein.» Auf der landabgewandten Seite schwingt eine schmale Türe auf, über ein Treppchen gelangen wir hinein. Durch den kleinen Raum fliesst ein freundliches Licht. Die Walnusswände, Boden und Decke lassen die Geräusche tanzen; sie lösen eine spontane Heiterkeit aus. Da sind zwei freie Ledersessel, und von einem Sofa gegenüber, mit einer Spur Curry, einem Wölkchen Gras und dem unverkennbaren Duft von Zuckerwatte, tönt der kratzende Bass: «Machen Sie sich’s bequem.» Ich bekomme den Schluckauf. Der Boss ist eine Frau.

Sie wiegt ungefähr hundert Kilogramm, trägt ein Jerseykleid mit Dreiviertelärmeln und Paisley-Bordüre in Barolorot, an ihre Schultern schmiegt sich eine Fake Fur Nerzstola mit Kopf und Füssen. Ich könnte schwören, dass der falsche Nerz mir zublinzelt. Über ihr Gesicht ziehen Lichtwellen, wie man sie sieht, wenn sich der Mond im Wasser spiegelt. Auch Ramón ist bereits ein Fan von ihr; diese kurzen Old Gringo Cowgirl Boots an ihren Füßen, mit einem Adler in Strass auf dem handgenähten Leder – ich sehe, wie er leer schluckt, um sie nicht gleich zu fragen, wo sie die Prachtstücke herhat.

«Ich wollte Sie beide persönlich treffen», sagt unsere Auftraggeberin. Ich sehe, wie sie zuschaut, wie wir sie von oben bis unten betrachten. Unsere Blicke fallen ineinander. Sie scheint amüsiert, und ich sage: «Das Geschlecht ist mir egal.» Sie lacht: «Mit dem ganzen Rest sind Sie punktgenau, Kokoro-San.» Ein paar Atemzüge lang ist Schweigen. «Nennen Sie mich Loki. Mein Vater gab mir den Namen. Er zog von Maui nach Phönix. Nach einem Unfall traf er meine Mutter, eine Chirurgin aus Lindau. Sie war in einem klinischen Praktikumsjahr und er ihr Patient mit einer gebrochenen Hand. Sie liessen einander nie mehr los. Genug davon.» Sie schnippt mit Daumen und Mittelfinger und intoniert wie eine ausgebuffte Bible Belt-Predigerin: «My sweet Ford».

Im Boden vor uns öffnet sich eine Luke. Aus dem Schiffsbauch dreht sich eine silberne Schraube, auf ihrer Spitze die Imitation eines asphaltierten Parkfelds. Darauf steht das Modell eines achat-schwarzen Ford F-150. Die Luke schliesst sich, und der Pick-up rollt zu Ramón. «Bitte, Doktor, Sie zuerst», blechelt es höflich aus dem Kühlergrill. Auf der kleinen Ladefläche dampft eine Heisse Schokolade; die Tasse wirkt riesig, und im dunkeln Schaum schmilzt ein Osterhase aus Sahne. Rams greift schneller zu, als er denken kann.

Ich liege ausgestreckt auf meinem Ledersessel, meine Nase hat sich gedreht, da ist ein Fisch, der eben noch im See schwamm; der Pick-up hat die Fenster der Hinterbank gesenkt. Er hält vor meiner Schnauze, der Wagenschlag öffnet sich, und durch die Motorhaube brummt es «Kokoro-Sama, ein bescheidenes Häppchen für Sie.» Ich schnappe mir die Felche, verschlinge sie noch in der Luft und lecke auf, was unvermeidlich runterfällt.

Der Ford kurvt mit einem schmatzenden Reifengeräusch zum Sofa. Die Beifahrertür klappt auf, und die Auftraggeberin zieht sorgfältig einen Joint aus dem Truck. «Ich hatte mein Frühstück, nun ist Zeit für unsere Unterredung.» Dann schnippt sie die Finger und ruft «Roger and Out». Der Miniatur-Ford platziert sich exakt über der Bodenluke und sinkt mit einem deutlichen Seufzer nach unten.

«Heute um halb sechs erhielt ich einen, hm, verzweifelten Anruf aus der Klinik in Mammern.» Die Auftraggeberin hat den zwinkernden Nerz zur Seite gelegt und zieht an ihrem Joint. «Wir haben dort eine Situation. Nun ja: eine akute Situation, wie ich höre. Mit so viel Psychiatrischem, dass die Mediziner Unterstützung benötigen. Die Chefärztin nannte Sie, Dr. Ingold. Es geht um eine Amphore. Um ein Orakel, einen Patienten? Dazu ein Wesen im Klinik-Park. Sagen von früher. Alles sehr vage – aber dringend. Etwas für Sie beide? Kokoro-San?»

Ramón schaut zu mir. Er wirkt irritiert. Ich verstehe; warum hatte sie ihn nicht direkt angerufen? «Ist mir recht», sage ich. «Wann?», fragt er.

«Sobald Sie Ihre Schokolade genossen haben, Dr. Ingold. Ihren neuen Verbündeten kennen Sie: Turtle bringt Sie direkt vor Ort. Weitere Fragen?»

«Wozu der Sumo-Kampfplatz auf dem Deck?» Ramón mit seinem Überblick.

Loki gluckst. «Vielleicht schicke ich Ihnen eine Einladung zu unserem Herbst-Turnier.» Die Seitentür geht auf, und unser Ruderer von vorhin wuchtet seine Gestalt in den Raum. Turtle. Das ist keine Mutant-Ninja Schildkröte für Teenager. Seine Grimmigkeit macht unbehaglich. Er stampft durch den Raum und lässt sich neben Loki aufs Sofa fallen. Das Teehaus schwankt. Loki ist nicht beeindruckt.

«Bring meine Gäste zum alten Klinik-Park, zum Mammutbaum. Ihr werdet erwartet. Und Turtle: bitte keinen Ärger mit Andersartigen!» Sie räkelt sich auf dem Sofa, nimmt einen Zug von ihrem Joint und bläst den Rauch in kleinen, silbergrauen Kugeln in unsere Richtung. «Danke für Ihre Bereitschaft und Flexibilität. Sie brauchen mich anschliessend nicht zu informieren – ich habe meine Kanäle.»

Turtle grunzt und mustert uns. Seine Augen blinken genau einmal, ohne dass er den Kopf bewegt. Als er die Flosse hebt, spült uns eine Energiewelle hinaus an Deck. Ohne Abschiedsworte springen wir ins Aluboot, Turtle kracht fast gleichzeitig zwischen die Ruder, die Taue sind gelöst, und wir fliegen übers Wasser, zurück zum Ufer.

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Erdbeeren, ein Dachs und das unsichtbare Kind

Pfingstsonntag, 09:30 Uhr. «Hier.» Er tänzelt auf die Veranda, lässt ein Porzellanschälchen aus unserer Küche auf der Kralle kreiseln und setzt es vor meiner Nase ab. Darin liegen sieben tiefrote Erdbeeren in einem Kreis, die grünen Hütchen entfernt. «Frisch aus meinem Versteck, im Zierteich gewaschen.» Er setzt sich und starrt erwartungsvoll.

«Noch nie», sage ich mit vollem Mund, feuchten Fingern und einer Saftspur auf dem Kinn, «habe ich solche …». Als ich schlucke, fällt es mir ein: «Mein intensivstes Erdbeer-Erlebnis hatte ich unter der Dusche. Mit dem Strawberry Gel von Body Shop. Wirkt bestimmt in jeder Sprache.»

Er blinzelt und gickert schadenfreudig.

«Es war der Geruch, ich hab’s doch nicht geschluckt!», maule ich beleidigt und verputze die letzten beiden süssen Beeren. Ob er weiss, dass es so etwas wie Synästhesie gibt?

Kann er Gedanken lesen, der schlaueste Dachs von allen? Er krallt sich mein iPad, surft und lässt die Zunge sehen, als er seine Beute hat: Wenn diese Beere ein Rosengewächs ist, eine Scheinfrucht und eine Sammelnuss – dann leuchtet ihm auch ein, dass sich Eindrücke von Schnauze und Nase, Auge, Ohr oder Tatze im geeigneten Kopf zu einem Mix verquirlen können.

Genüsslich zermahlt er das weisse Schälchen zwischen seinen Kiefern. «Schmeckt besser als Ton», grunzt er zufrieden.

Das Knacken und Knirschen ist so unerträglich, dass meine Zunge prüfend über jeden Zahn im Mund gleitet. Er schmatzt und schnauft und ist endlich fertig. Mit dem Rüssel berührt er sanft meine Stirne.

Ich kichere. «Ein Dachs-Kuss? Wir müssen los, zum Mammutbaum, zur Amphore, zum Orakel».

«Viel Ton», krochelt der Dachs und stemmt sich hoch. Woher kennt er ‹Amphore›?

Es war noch dunkel, als Mutter von einer Pflegerin geweckt wurde. Ein Notfall. Ihr Flüstern kroch unter meine Decke wie eine verängstigte Katze, und ich bekam Gänsehaut. Ich drehte mich auf den Bauch, mein Gesicht tief im Kissen. Als ich die Augen wieder öffnete, hörte ich, dass niemand ausser mir in unserer Wohnung war. Durch den Klinikgang draussen rannten Leute. So besonders war das alles zwar nicht, doch als ich aufstand, sah ich Mutters Notiz auf dem Küchentisch: ‹Bin wegen eines Vorfalls im Park. Bleib hier und warte auf mich.›

Als ‹die Kleine der Chefin› habe ich Zutritt, wo immer ich will. Als ich fünf war, begriff meine Mutter, dass sie mein Auftauchen nicht verhindern konnte. Verbotene Orte gab es nie für mich. Die Chefärztin war am Ende ihres Lateins und wechselte in eine archaische Sprache mit mir. Es war die Anerkennung, dass ich ihr alt genug schien, um endlich etwas Interessantes zu lernen.

«Als Psychiaterin erlaube ich mir Ausflüge in ausgedehntere Gebiete». Das sagte sie an einer vertraulichen Sitzung mit dem Vorstand der Klinik. Der älteste der Besitzer hatte eine Braue gehoben. In der Klinik-Bar (die gibt es wirklich, mit allem ausser Table Dance) hatte ihm ‹jemand›, natürlich sein Klatsch- und Tratsch-Informant Nick, der Barman, erzählt, die Chefin würde gewisse Patienten mit Methoden jenseits der anerkannten Verfahren ‹behandeln›. «Ägypten? Pharaonen? Wollen Sie unsere Patienten zu Mumien machen?». Der Patron versuchte, Vorgesetzter zu bleiben, ohne seine unersetzliche Klinikchefin zu verärgern.

Ich wusste schon damals, was ‹Mumie› bedeutet und prustete los. Vier Köpfe drehten sich zur Ecke. Dort kauerte ich hinter einem Podest aus Ebenholz mit dem Weißkiefer-Bonsai. Man munkelte, der sei eine Million wert. «Komm heraus, kleine Maus», sagte Mummie scharf. Wie immer, wenn sie mich sahen, vergassen die grauen Männer, wer sie für andere waren. Sie wurden zu Großvätern. «Und jetzt raus, Maus!», zischte die Chefin. Ich hatte noch einen Knicks gemacht. Als ich die gepolsterte Türe zuzog, hörte ich die Opas lachen.

«Dein Herumschleichen hört ab sofort auf», sagte die Mutter. «Und weil ich es dir nicht verbieten kann, lernst du, wie man sich unsichtbar macht.»

In einer einzigen Mittagspause brachte sie mir bei, wie ich mich bewegen musste, um nicht aufzufallen, wie ich meine Augen kontrollieren konnte, um keine Blicke auf mich zu ziehen, wie ich zu atmen hatte, um keine Aufmerksamkeit zu erregen und wie sich Gedankenbilder kontrollieren liessen, damit ich unbehelligt dorthin gelangte, wo ich hin wollte. «Das übst du jetzt jeden Tag, Maus. In einer Woche gibst du mir Bescheid, ob es klappt.»

Sie hatte mich an der Angel. Ich war begeistert. Ich versuchte es im großen Park, im Aufenthaltsraum vor der Bar, in den Klinikgängen, im Restaurant. Ich testete meine Unsichtbarkeit mit Patientinnen, Besuchern, Ärzten, Therapeuten und anderen, die in der Klinik arbeiteten. Wenn ich die vier Techniken zusammenbrachte, funktionierte es super: Niemand sprach mich an. Kein ‹oh, die Kleine der Chefin›, kein, ‹was machst du denn da?›, kein, ‹du solltest nicht hier sein› und vor allem kein ‹raus, Maus!›.

Das alles gelang mir in der ersten Woche. «Was?», entfuhr es Mummie. «Du warst in der Aufnahme, als ich den alten Grafen B. untersuchte?» Ich nickte. Sie schaute mich mit ihrem Maskengesicht an, das ich nicht lesen kann.

«Ich habe noch etwas entdeckt», sagte ich.

«Noch etwas? Zusätzlich zum Bewegen, Blicken, Atmen und den Gedankenbildern? Was denn?»

«Der Ort, an den ich hin will, das Zimmer, in das ich nicht hinein darf: Wenn dort etwas ist, das mich neugierig macht.»

«Ja? Was ist dann?»

«Es fühlt sich an, als ob ich an einem Gummiband hingezogen werde. Ich muss gar nichts tun.»

Sie atmet aus. «Prima, Maus! Erzähle mir in einer Woche, wo du warst, ohne dass man dich bemerkt hat. Nicht bemerkt, verstehst du? Kichernde Opas zählen nicht. Und auf keinen Fall in den OP!»

Das war vor zwei Jahren. Jetzt sind der Dachs und ich auf dem Weg zum Mammutbaum.

🀄︎

Eine andere Liga

Pfingstsonntag, 09:05 Uhr. Vier Pfoten sind immer schneller; bevor Rams einen Fuss an Land hat, stehe ich schon vor der kleinen Versammlung. Alle schauen verwirrt, ungläubig, befremdet: die Chefärztin und ihre Assistentin, die Leiterin der Pflege, der Physiotherapeut, der Präsident des Vorstands, im Anzug. Ich überlasse sie Ramón. Etwas entfernt, auf dem Kiesweg, stehen weitere Angestellte. Sie tuscheln. Ihre Körper bilden eine Schranke, die neugierige Kranke fernhalten soll.

Mich interessiert der fette Geruch aus dem hohen Tonkrug, an den Mammutbaum gelehnt. Aus einer breiten Spur von Rapsöl, Angstschweiss, zermahlten Knochen, Urin, Kot und elektrischen Entladungen starren mich die Augen eines Menschen an. Sein Kopf ist das einzige, das aus der Amphore ragt. Das blutleere Gesicht zeigt feine Risse, wie eine Maske aus frisch aufgetragenem Gips.

Ich komme näher, und mein Fell sträubt sich wohlig vom Nacken bis zur Schnauze. Das ist reizvoller als ein Kraulen; ich bade in einer Stromwelle. Sie kommt aus dem Innern des Baums, unwiderstehlich.

Als meine Nase die Rinde berührt, haucht mich etwas an. Ich höre plötzlich das Summen von Gedanken, die wie ein verstörter Bienenschwarm über den Köpfen kreisen.

Der Mensch im Tonkrug leckt über seine Lippen und öffnet den Mund. Aus einer bodenlosen Tiefe lösen sich gehetzte Sätze, mit dem Klang von Hobelspänen, die auf eine Trommel fallen: «Kokoro-sama, das Orakel grüsst Sie. Das Kind soll den Dachs anhalten, die Kiefer mit Sorgfalt zu gebrauchen. Meine Verlegung innerhalb der Klinik ist angezeigt. Wenn möglich, retten Sie den General. Die Naga ist mir eine persönliche Antwort schuldig. Folgt der Heiligen Schildkröte.»

Ein urweltliches Knurren lässt alle auf dem Platz herumfahren: Er hat das Boot nicht verlassen. Turtle. Er hat die Kapuze über den Kopf gezogen und wirkt wie ein massiger Turm auf schwankendem Grund. Die Anwesenden sind völlig durcheinander und riechen beissend.

Ich lege mich hin, die Schnauze auf den Duftspuren am Boden, meine Flanke am faserigen Stamm, mein Blick auf der unruhigen Gruppe, die Ohren bei ihrem Gemurmel. Sie haben das Orakel gehört. Und nichts verstanden.

Die Chefin greift sich ins Haar, ihre Finger stoppen. Sie bekommt ihren bekannten Silberblick. Sie beisst auf die Unterlippe. Ihre Füsse in den Ballerinas drehen sich nach aussen. Da kommt ihr Ramón zu Hilfe. Er schnalzt mit der Zunge, als ob er ein scheuendes Pferd beruhigen wollte und murmelt hörbar: «Sequoiadendron giganteum». Seine Stimme träufelt über die Anwesenden wie Honig auf knusprige Bratenten. «Dieser Riesenmammutbaum kann über dreitausend Jahre leben», fährt er fort. «Atmen Sie, Zeugen des Ungeheuerlichen. Atmen Sie durch Ihren Schrecken, es bleibt uns Zeit genug.» Dann reckt Doktor Ingold seine Arme in die Höhe und wedelt mit beiden Händen wie ein applaudierender Gehörloser, der eben eine frohe Botschaft erhalten hat.

Ich hatte die beiden längst gehört: Das Mädchen und der Dachs pirschen dem Parkzaun entlang bis hinter den Mammutbaum. Als sie mich sehen, sind wir fast Nase an Nase. Die Kleine rutscht neben mich und grinst zufrieden. Der Dachs zwinkert nervös, senkt den Rüssel und watschelt gefrässig zur Amphore.

Ein wüstes Knacken und Splittern lässt die Gruppe zusammenfahren: Der Grimbart schafft es mit dem ersten Biss, dass der Tonkrug zerspringt. Seine Kiefer reissen ein so großes Loch auf, dass die Spannung den Bauch des Gefäßes aufplatzen lässt. Blassrote Scherben treiben im ausfliessenden Öl auf die Menschen zu.

Jemand schreit. Ein nacktes, bleiches Wesen krümmt sich am Boden vor den Resten der Amphore, auf glitschigen Nadeln und Zapfen des Mammutbaums. Es bewegt sich wie ein Wurm mit einem Menschenkopf und zitternden Anhängseln, wo einst seine Arme und Beine waren. Ungerührt zermahlt daneben der Dachs den geölten Ton. Das Mädchen ist blass, sein Atem geht schnell, es klammert sich mit beiden Händen an mich. Ich drehe den Kopf und stupse mit meiner Nase an ihre. Sie zeigt ein winziges Lächeln. «Ich kenne ihn», flüstert sie, «er ist, sie war bei meiner Mutter in der Praxis – es hat mich gesehen, hinter den Töpfen mit den Palmen.» Ich drücke mich beruhigend an ihr klopfendes Herz.

Ich schaue zu Ramón, und er versteht sofort. «Dottoressa», sagt er sanft, «das Orakel braucht eine passende Umgebung, nicht wahr?»

Die Ärztin beginnt schon wieder zu schielen, da ruft die Kleine neben mir: «Mamma, der Dachs tut ihm nichts, er frisst nur den Ton.» Die Ärztin fährt mit den Händen über ihren weissen Kittel, berührt ihr Namensschild und hat sich wieder im Griff. Sie dreht sich abrupt und schnippt mit den Fingern zu den Angestellten hinter sich.

Zwei Pfleger, der Physiotherapeut und eine Assistenzärztin packen das ölverschmierte Orakelwesen in grüne Tücher und hieven es auf eine Trage. Es gibt keinen Laut von sich. Der Dachs hat sich in ein nahes Gebüsch verzogen und wartet ab. «Ostflügel, Labor Drei», befiehlt die Chefin, «Doktor Karasek soll übernehmen». Dann brennen ihre Augen fast ein Loch in mein Fell. Doch sie meint ihre Tochter. «Sofort auf dein Zimmer!» Das Mädchen robbt von mir weg und verdrückt sich hinter den Baum.

Das ist der Moment, in dem der Alte im Anzug mich wahrnimmt. Er greift an seinen Krawattenknopf, und sein irrlichternder Blick streift mich. «Wie kommt der Hund in den Park?» Der Ärger pumpt ihn auf. Die Ärztin sagt so gefasst wie möglich: «Herr Präsident, das ist …»

«Falls Ihre Kleine den mitgebracht hat, gilt es auch für sie: striktes Hundeverbot!»

«Es ist, wir haben ja Doktor Ingold hier, es ist seine …»

Der Präsident ist ausser sich und weiss jetzt, warum. Er fasst Ramón und die Chefärztin ins Auge: «Wir unterhalten uns in meinem Büro weiter. Kommen Sie!»

Ich signalisiere Rams, dass er sich nicht um mich kümmern soll. Ich habe noch zu tun hier. Lokis kribbelnde Stimme echot in meinem Kopf: ‹Ein Wesen im Klinik-Park. Sagen von früher. Alles sehr vage – aber dringend. Etwas für Sie, Kokoro-San?›

Da hebt Turtle eine Flosse und winkt mich zu sich. Wir sind allein. Als ich ins Boot springe, zieht er bedächtig seinen Hoodie aus. Ich bekomme wieder Schluckauf: Er ist von oben bis unten – eine Schildkröte, groß wie ein Mann. Er blinkt und gibt ein Schnarren von sich. Ich könnte schwören, dass er sich amüsiert, doch Mimik hat er keine.

«Die Naga?»

«Ja, da sind noch ein paar Fragen», sage ich.

«Unsere Körper tauschen!»

«Wie bitte?» Ich bin eine erfahrene Formwandlerin, soweit verstehe ich ihn bestens – aber tauschen?

«Ein Hund überlebt nicht.»

Ich verstehe. Sehe das Orakel vor mir, den zuckenden Wurm auf dem Boden vor dem Mammutbaum. Erinnere mich nur zu deutlich an die elektrische Welle, die mich ekstatisch werden liess. Meine Nase an der Baumrinde, der Hauch, in dem ich Gedanken hörte wie Bienensummen, wie Wolfsheulen.

«Okay Turtle, wie läuft das?»

«Du übernimmst meinen.»

«Und wo bist du so lange?»

«Im Hund.»

Mein Schluckauf ist weg. Ich beäuge seine überwältigende Gestalt. Meine Neugierde gewinnt. «Ich werde in deinem Körper sein – und du in meinem?»

«Hm.»

«Einverstanden. Unter zwei Bedingungen: Ich will in meinen Körper zurück. Und du beschädigst dort nichts!»

«Hm.»

«Ich nehme das als zweimal Ja.»

Turtle knarzt wieder unverständlich. Dann lehnt er sich nach hinten, das Boot schwankt bedrohlich, und ich ducke mich.

«Auf mich!», raunzt er.

Mit einem Sprung lande ich auf seinem ledrigen Bauch. Zwei gewaltige Flossen legen sich über mich. Ich versinke in Dunkelheit. Das Schaukeln des Bootes holt mich zurück. Als ich mich aufrichten will, drohen wir zu kentern. Ganz nahe höre ich eine bekannte Stimme. Meine.

«Über Bord, ins Wasser!»

Ich hebe den Kopf und erlebe einen Schock, als ob ich aus einer Wolke gefallen wäre. Blicke ich in einen Spiegel? Nein, ich sehe mich. Doch das ist –?

«Bist du das, Turtle?»

Ich beobachte, wie ich den Kopf schräg stelle und höre meine Stimme sagen: «Wer sonst?»

Turtles Körper bewegt sich, und ich rutsche der Bordwand entlang ins Wasser. Ich tauche unter. Die schwimmende Hündin in meiner Erinnerung zerfällt schneller als ein Zuckerwürfel. Ich fühle mich schwerelos. Der See und ich sind alte Vertraute. Und jetzt ist Kokoro Kapitänin in diesem mächtigen Schildkrötenkörper. Ich fühle mich großartig und beschleunige mühelos, meine Flossen geben unglaublich Schub. Ob ich Loki mit einer Stippvisite überrasche? Würde sie den Unterschied bemerken? Oder der schlaue Ramón? Schlagartig werde ich nüchtern. Die Naga!

Auch meine Perspektive an Land begeistert mich: Aus dieser Höhe sehe ich bis zu den Klinikgebäuden jenseits des alten Parks. Der ist immer noch menschenleer. Es muss bald Mittag sein. Als ich zum Mammutbaum stapfe, spüre ich den Ölfilm im Boden unter meinen Flossen. Der wuchtige Panzer auf meinem Rücken fühlt sich an wie – ein solider Kuschelkorb? Für einen kurzen Moment bin ich wieder verwirrt. Aus dem Baum züngeln elektrische Wellen. Sie kitzeln angenehm.

Ich lasse mich nieder und lehne an die Rinde. Und die gibt nach. Mir wird kalt vor Schreck. Mein Panzer steckt im Holz fest. Ein Sirren in meinem Kopf geht in einen Singsang über. Und plötzlich verstehe ich Worte. Sie bewegen sich wie scharfe Messer durch meine Gedanken.

«Was verschafft mir die Ehre, Kokoro-sama, so hübsch verpackt?»

Das ist meine erste Unterhaltung mit einer Naga. Unverrückbar in ihrer Gewalt. Sie spielt mit der elektrischen Ladung und lässt meine Kiefer aneinanderschlagen. Sie lässt meinen Bauch heiss werden und dann wieder kalt. Ist das ihre Art, mich kennenzulernen? Jedenfalls verwechselt sie mich nicht.

«Das Orakel», sage ich, «will Ihre Antwort auf eine persönliche Frage».

Rasierklingen öffnen mein Hirn, so sorgfältig wie ein Geburtstagsgeschenk. «‹Wer bin ich?›, das war keine Frage. Das war bloss ein letztes Echo aus einem unnützen Knochenkörper. Das Orakel ist niemand. Die Person existiert nicht mehr.»

«Wer ist der General?»

Die Naga lässt einen gleissenden Bilderreigen durch meine Augen schiessen. Ich erkenne nichts.

«Bedaure, Kokoro-san.»

Ich möchte weg. Sie kann mit mir anstellen, was ihr gefällt. Doch ich will noch ein Letztes wissen. «Was meint ‹folgt der Heiligen Schildkröte›?»

Kaum habe ich das gesagt, bereue ich es. Ihre Stimme schreddert den kleinen Rest Identität, der mir blieb.

«Ko-chan, du überlebst nur, weil Turtle dir seinen Körper geliehen hat. Bleibe wach und übe. Wir spielen in einer anderen Liga.»

Dann schlägt etwas mit unglaublicher Wucht auf meinen Panzer, es schleudert mich aus dem Mammutbaum, und ich lande benommen in den glitschigen Tonscherben, die der Dachs übrig gelassen hat.

Eine Weile bleibe ich einfach liegen. Als ich die Flossen bewege, spüre ich, wie die Kraft zurückkommt. Mein Zeitgefühl ist weg. Auf allen Vieren nähere ich mich dem Ruderboot. Unwillkürlich stehe ich auf, wie Turtle das tun würde: Im Boot liege ich auf dem Bug, hebe den Kopf und schaue aufmerksam – zu mir. Und neben meinem Hundekörper sitzt die Kleine der Chefärztin und krault mich hinter den Ohren. Ich höre, wie Turtles dumpfe Stimme ruft: «Turtle, das muss sofort aufhören. Wir wechseln wieder in unsere eigenen Körper zurück. Jetzt!»

Die Kokoro im Boot streckt sich geniesserisch, die Vorderbeine zuerst, dann die Hinterläufe. Sie gähnt, dreht ihren Kopf zum Mädchen und leckt seine Hand. Die Kleine kichert vergnügt.

Ich setze mich hin. Kokoro springt an Land und auf meinen Bauch, als ob sie dort eine Maus fangen würde. Ich lege meine Flossen um sie. Mit einem Schlag falle ich in Dunkelheit.

Eine Hand, die mich am Kinn krault, bringt mich zurück. Das Mädchen ist mir gefolgt. Ich bin in meinem Hundekörper! Oh, ich bin intakt, und Turtle hat mich unversehrt verlassen. Er ist bereits wieder im Boot und hat seinen Hoodie übergezogen.

«Turtle? Alles wie vorher?»

Er hebt eine Flosse.

«Was geschieht als Nächstes?»

Er schnarrt: «Wir warten hier.»

Ich hole Luft. Eine andere Liga? In meinen leichten Schlummer höre ich, wie sich die Kleine und Turtle unterhalten. Sie hat seinen Panzer mühelos überwunden. Er lehrt sie, was eine Naga ist und was eine Naga kann. Naga? Ist das nicht zu früh für sie?

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In einem Lichtbogen

Pfingstsonntag, 10:02 Uhr. Als die Sekretärin die gepolsterte Türe von aussen schliesst, sehe ich für einen Augenblick hinter ihre Stirn: ‹noch zwei Jahre und drei Monate bis zur Pensionierung›. Ihr Lächeln ist undurchdringlich. Der Präsident kümmert sich nicht um Befindlichkeiten; er ist der Wal, wir sind die Fische.

«Nichts von dem, was im Park geschah, darf an die Öffentlichkeit. Bis ich anders entscheide. Alle Personen, die mit Labor Drei zu tun haben, stehen unter Schweigepflicht. Sie verstehen das, beide?» Er mustert uns kurz. Wir stehen auf einem handgeknüpften Mashad-Teppich, vor uns der See, der Park und ein riesiger Schreibtisch; darauf könnten wir uns zu dritt niederlassen wie um ein Lagerfeuer.

«Bitte setzen Sie sich.» Seine bleiche Hand mit Altersflecken weist auf die zwei knubbeligen Chesterfield-Sessel. Die gab es auch in meiner Kindheit. Wir bauten darauf mit Wolldecken Jurten, spielten, versteckten uns vor den Erwachsenen und experimentierten mit Verbotenem. Eine Handvoll Streichholzköpfe, über die wir heisses Wachs gossen, explodierte in einer alten Kaffeedose. Die Stichflamme fackelte die Jurte und unsere Brauen ab. Der Ledersessel zeigte nur ein paar versengte Stellen.

Die Sekretärin erscheint wie ein Geist im Kommandoraum. Sie rollt einen Service-Trolley mit Getränken vor uns hin. Wortlos schaut sie uns an. Eine Augenbraue hebt sich fragend.

«Sie ist stumm», sagt der Präsident, «selektiver Mutismus. Wählen Sie.» Er sitzt in seinem massgeschneiderten Sessel; mit einem Kugelschreiber notiert er etwas auf einer Karte. Die Sekretärin hat uns bedient, sie nimmt die Karte entgegen, überfliegt sie und nickt.

«Informieren Sie mich.»

«Die Patienten-Akte ist bei Ihrer Sekretärin,» sagt die Chefärztin.

«Ja. Gelesen.»

«In der Nacht auf heute ist etwas geschehen, für das wir keine Erklärung finden. Wie kam der Körper in die Amphore? Was hat ihn zerbrochen? Und am Leben gelassen? Wir haben die Stimme gehört und nicht verstanden, was sie sagen wollte.» Sie seufzt und schaut zu mir.

«Kokoro konnte sich mit dem Orakel verständigen», sage ich, so sachlich wie möglich. «Wenn wir uns einig sind, dass im Labor Drei jetzt ein Orakel lebt.»

«Es wird bis auf Weiteres in einer Wanne mit Öl und Wasser liegen.» Die Ärztin hat meinen Ton aufgenommen. «Es wird uns vermutlich wissen lassen, welche Nahrung es braucht. Denken Sie auch an unsere klinische Forschung! Was für einzigartige Daten, in Reichweite.» Sie seufzt: «Der Vater wird sich bald melden. Er ist ein Kollege und hat die Überweisung geschrieben.»

«Wenn es passt, werden Kokoro und ich ihn übernehmen. Wir bleiben, solange es uns braucht.» Ich proste mit dem Kristallglas in die Luft und trinke einen Schluck Wasser.

Der Präsident gibt einen unbestimmten Laut von sich, steht auf, öffnet einen Fensterflügel und bleibt mit dem Rücken zu uns stehen. Seine Hornbrille liegt auf dem Schreibtisch. Ich trete zu ihm, und ein Schwindel packt mich. Auf einem Ast, zum Greifen nah, sitzt ein Rabe, sein Gefieder schwarz und glänzend wie Obsidian. Er blinkt, senkt den wuchtigen Schnabel, und ich verstehe, was ich mit dem ersten Augenaufschlag erfasst hatte: Der Rabe hält sich nicht mit den Krallen auf dem Ast. Seine Füsse stecken in Miniaturen der Old Gringo Cowgirl Boots, mit einem Adler in Strass auf dem handgenähten Leder. Loki! Unsere Auftraggeberin ist ein Metamorph.

Dem Präsidenten fällt offensichtlich nichts auf. Er scheint nicht einmal den Raben wahrzunehmen. Er räuspert sich und dreht sich nahe zu mir. Beiläufig sagt er: «Dr. Ingold, ich hatte vorhin Kokoro im Park nicht erkannt, ich war abgelenkt. Ein Missverständnis. Von Hunden verstehe ich ohnehin nichts. Doch seit Sie mit unserer Chefin liiert sind, läuft alles rund mit den Teams in der Klinik. Sie tun ihr gut. Das Mädchen andererseits …». Er bricht ab.

Die Ärztin hat einen Anruf entgegengenommen, sie ist aufgestanden und winkt uns mit der freien Hand zu sich. «Der Vater wird in einer halben Stunde hier sein.»

«Seien Sie erfolgreich mit allem, viel Glück! Und halten Sie mich auf dem Laufenden.» Der alte Mann strafft sich und scheucht uns hinaus.

Wir eilen zurück in den Park. Ich lache: «Der Alte hat mir sozusagen gratuliert.»

«Ach ja? Wozu?»

«Er sagte ‹Sie tun ihr gut›, doch mit deiner Tochter hat er ein Problem.»

Sie küsst mich auf den Hals. «Ihm ist nur wichtig, dass der Laden läuft, so wie der Vorstand und er sich das vorstellen.»

Am Ufer, im Ruderboot, döst Turtle, und die Kleine krault träumerisch Kokos Fell. Die Chefin schnaubt. Als sie uns hören, öffnen alle drei die Augen.

«Loki ist eine Formwandlerin», sage ich.

Nur das Mädchen reagiert. «Wie macht man das?»

«Ich bring’s dir bei», brummt Turtle.

«Ich bring’ dir gleich auch etwas bei», schnarrt die Mutter, ihren Laserblick auf dem Mädchen, doch ich halte sie zurück.

Jemand ruft meinen Namen. Eine Angestellte vom Empfang kommt uns mit einem Mann entgegen, der ihr im Stechschritt vorauseilt. «Der Vater», murmelt die Chefin. «Der General», flüstert die Kleine und Kokoro gibt ihr recht.

Er orientiert sich in Sekundenschnelle, reicht der Chefin die Hand und sagt wie ein Arzt auf Visite: «Frau Kollega, was sind die Ergebnisse Ihrer Untersuchung? Ich kann wohl davon ausgehen, dass ein Besuch jederzeit möglich ist?».

Sie steht gefasst und bleich vor ihm. Ich verharre unbewegt an ihrer Seite, und sein Blick geht irritiert zwischen uns hin und her.

Im selben Moment, als ihre Mutter sich die Lippen befeuchtet und antworten will, springt die Kleine an Land. «Herr General», ruft sie munter und ergreift seine Hand. «Sie müssen zuerst die Naga begrüssen.» Er ist so überrumpelt, dass sie ihn ohne Weiteres zum Mammutbaum ziehen kann. «Die Naga wohnt hier drin», sagt das Mädchen ernst, lässt seine Hand los und hüpft zu uns zurück.

Wir sehen, wie der Mann sich umdrehen und dem Unsinn ein Ende setzen will. Doch er ist zu nahe an der silber-fasrigen Rinde, und aus dem Baum erfasst ihn eine Stromwelle. Er lässt sich zunächst willig von ihr wiegen, dann wird sein Körper starr und zuckt, als ob etwas von ihm Besitz ergriffen hätte.

Ich spüre Kokoros Schnauze an meiner Hand: «Das Orakel wollte, dass wir ihn retten. Wenn möglich.»

Die Kleine ist erschrocken. «Herr General!», ruft sie, «kommen Sie zu uns zurück.» Turtle verharrt reglos auf der Ruderbank.

Wir hören die Stimme des Generals, in Streifen geschnitten wie mit einem Sushi-Messer, blutleer und ohnmächtig vor Zorn. «Bin nicht Vater eines Orakels. Niemand hat ein Recht. Zerbrochenes Kind. Warum.» Dann kämpft er sich mit aller Kraft nach vorn, krallt sich in die Rinde. Ein Lichtbogen erfasst ihn, vom Kopf bis zu den Schuhen. Er fällt wie ein Baum. Er liegt mit dem Gesicht im öligen Reisig, wo sich vor Stunden der zerstossene Leib seines Kindes am Boden wand.

Die Chefärztin spricht bereits in ihr Telefon.

Das Mädchen klammert sich an meine Hand, Kokoro an seiner Seite.

«Es bleibt ‹folgt der Heiligen Schildkröte›», knurrt Koko. «Turtle?»

Die Chefin packt ihre Kleine und eilt mit ihr zur Klinik zurück.

Turtle grunzt: «Springt rein und ab auf die Hinterbank. Festhalten.»

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