Episode 5

Panik

1

Ramón teilt mein Fell im Nacken, bis er eine Rille von einer Fingerlänge vor sich hat. Dann giesst er das Gift auf meine Haut. Es ist eine ölige Flüssigkeit, an die ich nicht herankomme. «Zum Glück», sagt er, «das würde dich töten, nicht so rasch, aber ebenso sicher, wie es eine Zecke verätzt».

Er hält mich fest. Ich darf mich nicht schütteln. Und danach rührt er mich bis zum nächsten Morgen nicht mehr an, meidet jeden Körperkontakt.

«Würde es auch dich töten?»

Er zuckt die Schultern. «Auf der Packung wird gewarnt: Zwölf Stunden nicht anfassen. Hier, etwas Leckeres zum Nagen.»

Unser Vollmond-Ritual in den warmen Monaten.

Doch in dieser Nacht legt sich ein Schatten über mich. Ich glaube, im Innern eines riesigen Knochens zu stecken. Durch beide Enden der abgehackten Röhre schwappen Schleimfetzen von Geräuschen; trunkene Schritte, klebriges Lachen, der Schrei eines aufgeschreckten Vogels und von weit weg Explosionen und das Zischen von Raketen. Ich bin gelähmt, nur meine Läufe zucken. Ich liege auf dem Bauch und bekomme keine Luft.

Die Schattengestalt drückt meinen Atem platt. Endlich kann ich den Kopf zur Seite drehen. Tropft Geifer auf meinen Hals? Etwas krabbelt durch mein Fell, will an meine Haut. Und stoppt. Ich bin starr. Ich wimmere. Da ist Ramóns beruhigende, schläfrige Stimme: «Kokoro, du träumst».

Ich drehe mich auf den Rücken. Ich stöhne, mein Bauch rumort, ich zittere bis in die Schwanzspitze. Und stürze in den bekannten, würgenden Schlund. Das ist der Moment, in dem ich verstehe. Das ist der Abgrund, in dem mir klar wird, was hier geschieht. Mit mir. Das verschlingende Monster zeigt sich nie. Ich rieche und fühle und höre es. «Koko, ein netter Besuch? Ein neuer Versuch? Genug vom Fluch?»

Natürlich spricht das Monster nicht. Seine Zunge leckte mich einst sauber, mit seinen Zähnen in meiner Nackenfalte trug es mich damals aus der Kälte an die Wärme. «Ko-chan, lass den Horror, friss deine Angst.»

Nichts von dem sagt das Monster laut. Es schubst mich, und ich werde steif. Ich fiepe. Ramón hat es gehört. «Kokoro, das ist ein Albtraum.» Und er summt für mich, brummelt müde, versucht sogar ein Knurren. «Noch ein paar Stunden», sagt er und taucht in seinen Schlaf.

So hatte ich allmählich begriffen: Aus Wiederholung schält sich Verstehen. Was ich erlebe, stülpt sich über mich. Vom Fell auf die Haut und hinein. Wohliges Grunzen oder unbehagliches Grollen. Ich, Ramón, Andere: bei allen dasselbe. Doch was ist das? Was dringt in uns, füllt uns aus, verändert uns?

Ein Würgen steigt in meine Kehle und wird laut. Ramón richtet sich abrupt auf: «Ko-chan? Musst du …?». Seine Hände sind warm an meinen Seiten, auf meinem Bauch, und die Welle von Übelkeit verebbt. Er hat vergessen, dass er mich noch nicht berühren soll.

Ich schliesse die Augen, und eine Tatze packt mein Genick. Das Monster ist mir näher als der Puls meiner Halsschlagader. Ich jaule auf vor Schreck.

«Ins Grosse oder ins Kleine?» Ich muss mich entscheiden, keine Frage. «Ins Kleine, bin eine Zwergschnauzer-Hündin.»

Kaum habe ich das gedacht, säuselt eine flauschige Stimme über meinem Kopf: «Willkommen zu unserem beliebten Sturzflug. Bitte bewegen Sie sich während der kurzen Reise nicht. Und versuchen Sie auf keinen Fall, irgendwo Halt zu finden; Sie riskieren ernsthafte und bleibende Verbrennungen. Für Ihre Sicherheit ist gesorgt. Geniessen Sie Ihre Einsicht. Wir wünschen Ihnen eine angenehme Landung.»

Der Boden unter mir bricht weg. Wie eine Kugel fliege ich, Schnauze voran, durch einen Strudel von Zerbrochenem. Aber nichts berührt mich, alles Sichtbare entfernt sich unfassbar schnell; die Splitter werden zu Lichtpünktchen. Ich rase durch einen Trichter, der immer enger wird. Ich nähere mich einer pupillengrossen Öffnung, da zuckt meine Pfote. Ein glühender Schmerz reisst mir die Haut auf. Ich fürchte, im fast unsichtbaren Loch am Boden des Trichters aufzuschlagen. Nein – ich jage hindurch, ein winziges Teilchen. Oder bin ich geschrumpft? Alles flirrt.

Plötzlich spüre ich meinen Atem, wie eine klamme Decke, die nachts im Freien vergessen wurde. Ich schüttle mich. Ich dehne mich nach allen Seiten. Es ist ruhig. Nach einer Weile fällt mir auf, dass ich auseinandergezogen werde. Es stört mich nicht. Alles ist jetzt in ein behagliches Licht getaucht. Verblüfft entdecke ich meine Schwanzspitze am Horizont, schliesslich meinen ganzen Körper; er bewegt sich in einem weiten Halbrund um mich. Es beunruhigt mich nicht. Ich schaue zu, wie ich mich in durchscheinende Blasen auflöse. Das geschieht sanft, selbstverständlich, und in mir ist keine Furcht. Dann kitzelt mich Schaum in der Nase. Ich niese. Wieder und wieder, bis ich nach draussen geschleudert werde wie ein Insekt. Aus meiner eigenen Nase?

Ich röchle. Ramóns Hand tastet unwillkürlich nach meinem Kopf. Er fixiert die Schlafzimmerdecke; dort erscheint die Uhrzeit, in rote Lichtkügelchen gepixelt. Wie die Stirn eines Opfers durch das Zielfernrohr des Killers. «Du hast geträumt, Ko-chan. Noch eine Stunde. Ach! Muss mir die Hände waschen – wie konnte ich nur.» Er rappelt sich auf und geht ins Bad.

Beim Frühstücken mustert er mich: «Was meinst du, diese Nacht, war das eine Nebenwirkung? Erinnerte mich an eine Panik-Attacke.» 

«Nein», sage ich. «Das erlebe ich öfter. Und heute Nacht war’s heftig. Bin im Schaum gelandet.»

In einer Sekunde verwandelt sich Ramón in den Psychologen Ingold. «Wo bist du gelandet?»

«Manchmal fragt das Monster ‹rauf oder runter?›. Ich sage dann ‹bin eine Mausjägerin, also runter›. Heute musste ich zwischen Grossem und Kleinem wählen. Das Monster kann mich erschrecken, wie sonst nichts. Und es macht sich lustig über mich. ‹Fressen oder gefressen werden?› Einmal war ich übermütig und wählte das Zweite. Nie mehr.»

Ramón, abgelenkt, fixiert mich: «Wie? Wer hat dich gefressen?»

«Keine Ahnung. Es war scheusslich. Später war ich wieder im kitzelnden Schaum. Und alles wurde gut.»

Ramón lehnt sich zurück, trinkt Kaffee und findet seine gewohnte, lockere Stimme. Das lässt nun mich wachsam werden. Er wechselt das Thema? «Unsere aussergewöhnlichste Auftraggeberin, Loki, fragt, ob wir einem Freund ‹ganz oben› helfen können. Sie meint, er habe ein ernsthaftes Problem mit einer Entdeckung. ‹Ernsthaft?›, fragte ich. Und Loki, trocken: ‹tödlich›. Deine Schaumgeschichte hat irgendwie damit zu tun, das spüre ich.»

«Aha. Und was heisst ‹ganz oben›? Im Gehirn?»

«Ja. Vermutlich auch.»

Wir schauen uns an, und ich denke: Sapiens! Hilflose Spezies. Selbst die gebildetsten Exemplare verirren sich in ihren mickrigen drei Prozent Wissen. Unser Glück, dass –

Ramón lacht. «Wie ich diesen Ausdruck kenne! Kokoro-sama mokiert sich über die Menschen.»

Ich gehe in die Hund-mit-Schnauze-zum-Boden-Stellung. «Mir recht. Bin dabei.»

2

Wir erreichen die Auffahrt. Silbergrauer Kies krackelt unter den Reifen. Ramón parkt den Wagen vor dem Eingang eines Knusperhäuschens. Ich springe ins Freie.

Zwei Raben stürzen von der Dachrinne auf uns herab und krächzen dreist, harte Federbälle mit aufgerissenen Schnäbeln. Ramón reagiert wie ein Tier. Er federt zur Seite, streckt seine Hand aus und pfeift schrill – ein Schiedsrichter, der ein Foul ahndet. Ich erwarte eine Gelbe Karte, mindestens. Die Vögel aber spreizen ihre Flügel; Krallen schrammen über Kies, und mit frechem Blinken starten sie durch, zurück aufs Dach.

Aus dem warmen Holz des Gebäudes riecht es nach Fressen; Würmer, Larven und Insekten, die Überreste eines toten Vogels in Schindelritzen. Es kratzt und raspelt. Hinter dem Mäusehuschen ist ein Knacken und Reissen in den Wänden.

Im oberen Stock, überschattet vom Dach, schaut ein Äffchen aus einer offenen Balkontüre auf uns herunter. Seine schwarzen Augen riesig, das Gesicht kalkweiss, das rotgoldene, seidige Fell aufgeplustert vor Erregung. «Eine chinesische Goldstumpfnase, geschützte Spezies», flüstert Ingold, um sich zu konzentrieren. Die beiden Raben haben sich auf einem Sims festgekrallt und rucksen provozierend.

Aus dem Dunkel hinter dem Äffchen erscheint ein schwerer Mann in einem Arztkittel. «Ah, Lokis Team», höre ich ihn sagen. Es ist die Stimme eines Alten. Ich schnüffle Absinth und eine staubige Fürsorglichkeit, die in Dunstschwaden aus dem Raum sickert.

Die Horrorwelle erwischt uns eiskalt. Wir frieren ein wie Frösche in flüssigem Sauerstoff: Der alte Mann beugt sich zu uns, er lehnt sich über das niedrige Geländer, sein Schwerpunkt ist viel zu hoch, unsere Blicke kreuzen sich – dann kippt er nach vorn und fällt. Er muss an die hundert Kilogramm wiegen. Der weisse Mantel flattert, sonst vernehmen wir nichts. Ein Sturz aus dem zweiten Stock dauert eineinhalb Sekunden. Hat Ingold das eben gedacht?

Keine Zeit zu atmen. Mein Kamm ist starr. Unser Entsetzen explodiert in der unerträglichen Stille: Da ist kein Aufprall, keine berstende Körpermasse. Weder splitternde Knochen noch ein einziger Schmerzlaut. Nichts. Doch vor unseren Augen verschwindet der schwere Körper in einem Strudel aus Schaum. Als ob ihn ein Abflussrohr in die Tiefe gesogen hätte. Wir sind Zeugen, wie der Arzt sich mit einem gurgelnden Geräusch im Kies der Auffahrt auflöst. Noch ein verstörendes Schmatzen, und alles ist verschwunden. Bis auf einen körpergrossen Fleck grauer Nässe. Geruchlos.

Ramón gibt einen kehligen Laut von sich; ein Tanzbär, den das Halfter würgt. Mit beiden Fäusten massiert er seine Kiefer. Wir starren uns an und realisieren, dass wir im gleichen Albtraum gefangen sind.

Endlich blicken wir nach oben. Da verschlägt es uns zum zweiten Mal den Atem: In der offenen Balkontür steht der Arzt und eng an ihn geschmiegt das Äffchen. Er winkt uns entspannt zu. «Bitte treten Sie ein, die Türe ist nicht verschlossen.»

Benommen tappen wir zum Eingang. Auf einem vergoldeten Schild steht unter der Klingel in einer altmodischen Zierschrift ‹Dr. med. Fritz Schönborn, Neurologe›. Ramón murmelt «wir sind richtig». Er drückt die Türe auf. Ich muss zurückschauen: Die Feuchtigkeit im Kies ist so deutlich erkennbar, wie die forensische Markierung nach einem Todesfall.

3

«Hey», ruft das Goldäffchen und schlenkert seine Arme, «das hat ja gedauert». Es fläzt sich auf einem gepufften, bestickten Sofa mit lackiertem Holzrahmen. Dort ist Platz für zwei. Mit einem Sprung bin ich oben. Das Äffchen grunzt vor Vergnügen. «Willkommen im Tiergarten!» Es beugt sich zu mir und wispert: «Das ist jetzt unser Revier. Wir sind aufgeschlossen, nicht?»

Ramón ringt um seine Fassung. «Biedermeier, 1840?», murmelt er, um sich zu beruhigen. Für den Mann im Arztkittel ist so weit alles in Ordnung. Er weist auf einen Sessel für Ramón und quetscht sich in einen engen Korbstuhl beim Balkonfenster, aus dem er –

«Der kommt da nie mehr hoch», feixt das Äffchen. Das sehe ich auch so und verziehe eine Lefze. Wir verstehen uns.

«Dr. Ingold, Kokoro-san, ausgezeichnet, dass Sie hier sind!»

«Dr. Schönborn, wir haben Sie gefunden». Ramón deutet eine Verneigung an. Er gibt den diskreten Feldforscher und macht es sich bequem. Der Arzt schaut zwischen uns hin und her. In seinem Gesicht arbeitet es. In seinen derben Händen ist ein Zittern. Er wirkt versonnen. Worauf wartet er? Das Äffchen springt unversehens vom Sofa und verschwindet in einem Nebenraum.

Von draussen hören wir die Raben. Sie wiederholen unsere Namen und gurren und tratschen hemmungslos. Am liebsten würde ich ihnen – da stolziert das Äffchen herein, mit einem Tablett hoch über dem Kopf. Es stellt Gläser und eine Wasserflasche in Reichweite und hüpft neben mich. Ich stupse es: «Gehören die Raben zu Euch?» Das Äffchen zieht die Oberlippe hoch und bleckt seine Zähne. «Nein. Die gehören zu ihm.» Es zeigt auf den Arzt. «Meine Gang stelle ich Dir noch vor.»

Der Arzt schnippt mit den Fingern. Und nun starren Ramón und ich schon wieder: Das Äffchen fliegt wie vom Gummiband einer Steinschleuder geschossen quer durch den Raum, zu einem Eckschrank mit gravierter Glastüre. Es landet weich auf dem Teppich und kratzt sich am Schädel. Dann scheint es durch die Scheibe zu greifen; es fasst nach einer Flasche Rotwein, einem Kelchglas mit rotem Rand und platziert beides auf dem Fenstersims. Wie in Zeitlupe hat es den Wein entkorkt und eingeschenkt. Und mit einem schwerelosen Sprung ist es zurück auf dem Sofa.

Ramón kann sich nicht länger halten. «Was wir eben da draussen erlebt haben», beginnt er, in einem neutralen Ton, als ob er von den Raben sprechen wollte.

«Darum sind Sie hier, Dr. Ingold.» Der Arzt trinkt sorgfältig, schaut zur Decke und seufzt. «Loki hat Sie beide empfohlen. Loki und ich kennen uns schon lange. Nicht zuletzt vom Sumo.» Er zeigt ein schiefes Lächeln. Ramón ist überrumpelt: «Sie meinen das Floss auf dem Bodensee? Das Boot mit dem Teehaus und dem Sumo-Kampfring davor?»

«Ah, Sie kennen das. Hat Turtle Sie hingebracht? In seinem fliegenden Ruderboot?»

«An einem Pfingstsonntag, vom Pier in Mammern. Eine unglaubliche Gestalt. Sehr bemerkenswerte Person. Obwohl, kein Mensch, nicht wahr, möglicherweise – eine Art Schildkröte?» Ramón bricht ab.

«Wir haben schon zusammen gekämpft, dort im Ring», sagt der Arzt stolz. «Natürlich habe ich verloren. Ich hielt vielleicht dreissig Sekunden durch. Dann setzte Turtle zum Wurf an. Was für eine Ehre!»

«Hm.» Ramóns Gesicht wird ausdruckslos. «Vorhin auf Ihrem Kiesplatz», beginnt er nochmals: «Was haben wir da gesehen, Doktor?»

Der Arzt schält sich ächzend aus dem Korbstuhlgeflecht und streicht seinen Kittel glatt. «Gehen wir in mein Atelier», brummt er, irgendwohin ins Leere. Wie ein Lotse zieht mich das Äffchen vom Sofa, hinaus und hinauf ins Dachgeschoss. Die beiden Männer folgen uns.

4

Hier oben lockt ein zerkratztes Ledersofa, bereit für uns. Wir schmeissen uns der Länge nach hin. Das Äffchen zupft an mir herum und quiekst «Kokoro, Kokoro.» Was für ein Händchen!

«Und du? Wie nennt man dich?» 

«Goku.»

Die Männer stehen im Raum. Ramón dreht den Kopf: «Goku? Ein alter Name. Und berühmt: der Affenkönig. Abenteuerliche Geschichten, bis heute.»

«Eben», sagt Goku. «Du wirst staunen, wenn du die Anderen kennenlernst.» 

Ein ‹Atelier› ist das nicht. Der kahle Dachraum ist bis auf drei Stühle leer. Nur unser Sofa unter einem schrägen Deckbalken gibt etwas her. Das einzige Fensterchen steht offen. Die Männer setzen sich, Ramón mit dem Rücken an der Westwand, der Arzt gegenüber. Goku verharrt reglos, an meine Flanke gelehnt. Von draussen hören wir ein Flattern, die Raben landen auf dem Sims. Sie bleiben still und äugen neugierig.

Schönborn atmet schwer. «Ich will gleich zur Sache kommen. Ich hatte Sie beide vom Balkon meines Arbeitszimmers gegrüsst, und Sie haben das Haus betreten. Was davor geschah, könnte man eine Täuschung nennen, doch das beschreibt es nicht. Ohne Zweifel haben Sie etwas sehr Unangenehmes oder mindestens Unerwartetes erlebt. Ich bin dafür verantwortlich und möchte es erklären. Für den Schrecken entschuldige ich mich.» Er ächzt und schaut zur Seite.

«Ja, das hat uns kalt erwischt», sagt Ingold. Seine Sympathie für den Kollegen füllt den Raum mit einem Prickeln, das meine Nase kitzelt. Er beugt sich vor und berührt Schönborn leicht am Knie. «Loki hat mit Sorge von Ihnen gesprochen. Doch glauben Sie mir: Mit Kokoro unterwegs zu sein, ist ein unaufhaltsames Wagnis. Keine Entschuldigung nötig.»

Schönborn streift uns mit einem Blick, deutet ein Lächeln an und murmelt etwas, das wie ‹spiritus animales› tönt. Ramón murmelt zurück: «Thomas Willis, 17. Jahrhundert». Der Arzt richtet sich auf, jetzt lächelt er wirklich. «Sie kennen ihn? Den Begründer der Neurologie? Grossartig, nicht?» Und schon versinken die beiden in einem unverständlichen Austausch zu Gehirnfunktionen und Wirklichkeiten. Sie spielen sich Fachbegriffe und Fremdwörter zu: wetteifernde Jungs, angeberische Männer, überzeugende Experten, unersättliche Forscher. Selbst mitten im Erleben bleiben sie so allgemein und trocken wie nur möglich. Unglaublich.

Ich döse weg, doch Goku knufft mich: «Ich weiss, was Ihr gesehen habt». Ich öffne ein Auge, mein Fell zuckt, als ich sage: «Sein Körper wurde zu Wasser, zu Schaum und verschwand im Kies.» Goku kräuselt seine Stumpfnase: «Der malaiische Regenmacher hat dem Doktor nicht gutgetan. Sie haben zusammen getrunken, nichts begriffen. Jetzt ist er dran.» «Der Doktor war in Malaysia?» «Kuala Lumpur. Klinik. Arzt», sagt Goku. «Und was ist mit dem Regenmacher?» Goku wird noch hochnäsiger: «Ein Nachbar, trinkfest, gelangweilt, am Experimentieren. Kannte sich aus mit Wasser.» «Du warst bei ihm?» «Nein.» Goku grinst: «Habe ich alles von Loki. Ich war bei meiner Gang. Bei ihm bin ich erst seit Kurzem. Wunsch von Loki.»

«Warum gab es kein Geräusch, als der Körper aufschlug? Warum sitzt er jetzt hier?»

Goku beugt sich über mich, krault mein Ohr mit seinen magischen Affenhändchen und flüstert: «Damit du zu uns kommst. Wir brauchen dich für einen Auftrag. Und du lernst meine Gang kennen. Ingold kann uns begleiten, wenn er will.»

Ich muss gähnen vor Aufregung. «Ich hörte bloss das Schmatzen, als er im Kies versank. Und roch nichts davon.»

Die Männer diskutieren ohne Ende. Goku schnellt in die Höhe und plustert sein Fell auf; seine rotgoldene Aura lässt die Raben auf dem Sims nervös trippeln. Er applaudiert begeistert. Dann kratzt er sich am Bauch. Ramón und der Arzt schauen zu uns. «Werter Schönborn», sagt Goku feierlich, «legen Sie die Karten auf den Tisch. All in.» Er verbeugt sich und plumpst zurück aufs Sofa. 

Der Arzt nickt widerspruchslos. Das Pokergesicht passt zu ihm, als er sein Blatt ansagt: «Herz. Rhythmus. Störungen.» Er knetet sein Ohrläppchen, verschränkt die Finger. Dann legt er die Rechte auf seine Brust. «Pombuat Hudschän: der Regenmacher. Wie sein Vater, wie sein Grossvater. Nach Jahrzehnten hatte er etwas entdeckt: Es war möglich, das eigene Wasser zu manipulieren. Siebzig Prozent des Körpers. Alles Andere entzieht sich. Unsere eigene Elektrizität ist zu subtil. Unser Atem zu flüchtig. Unser Skelett zu zerbrechlich. Doch unser Wasser kann sich mit der Aussenwelt auf eine Weise mischen, die uns weiter –». Schönborns Stimme wird heiser.

«Haben Sie noch Kontakt zu ihm?», fragt Ramón.

«Er ist 2007 verschwunden.» Schönborn schaut auf seine Hand, die zittert. «Ein Bekannter aus Kuala Lumpur sandte mir später einen Briefumschlag mit meinem Namen darauf. In der Handschrift des Regenmachers. Darin ein Kofferanhänger aus Plastik, mit zwei Augen. Bewegt man den Anhänger, verdrehen sich die schwarzen Pupillen. Sonst nichts. Sein Humor.»

«Verschwinden: das unerträglichste Ende.» Ramón weiss, wovon er redet. «Da kommen wir mit jedem Abschied besser zurecht. Oder mit dem Tod.»

Die Raben flattern auf und lassen sich fallen. Von unten grobe Bremsgeräusche, spritzender Kies, ein laufender Motor. Eine Wagentür knallt und dann füllt ein Grunzen den Dachraum: Turtle!

Goku ist schon bei der Türe, ich wie ein Schatten hinterher. Wir wetzen die Treppen hinab und hinaus.

Turtle lehnt an einem bemalten Kleinbus. Ein dunkler, schuppiger Riese. Die Schiebetüre hat er geöffnet. Er bewegt eine Flosse und nickt Goku und mir zu: «Darf ich bitten?» So höflich erlebe ich ihn zum ersten Mal.

«Können wir?», raunzt Turtle. «Einen Moment noch», sage ich und lausche. «Ok. Ingold kümmert sich um den Doktor. Hallo Turtle.»

Er knurrt und setzt den Minibus zurück. Dann brausen wir los. Goku kreischt vor Vergnügen.


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