Episode 6

Schmetterlinge fliegen in Paaren

1  Pfefferfäden

Im Innern des kleinen Busses ist es dämmrig. Woher kommt das fahle Licht? Goku winkt mich zur Liegebank in der Wagenmitte, rund und offen wie eine halbe Kokosnuss, gefüllt mit einem Marshmallow aus Plüsch. Als ich auf dem Polster lande, zieht es mich nach unten. Ich fühle mich angeschnallt. Es riecht wie in einem Biotop, meine Nase bleibt kühl und feucht. Fenster gibt es keine. Auch für Turtle in seinem Schalensitz nicht. Er schaut auf einen Bildschirm und lässt die Flossen hängen. Womit steuert er? Aussengeräusche fehlen. Aber der Wagen fährt. Ich spüre, wie wir über Asphalt rollen, die Spur wechseln, beschleunigen.

Ausser uns Dreien scheint der Bus leer – dann trifft mich ein pfeffriger, pudriger Geruch, der mich aufschreckt. Gokus Affenhändchen stupsen meinen Kopf. Er beugt sich vor, seine Fingerchen ziehen meine Augenlider nach oben. «Ko-chan, was ist?» Ich grolle. Da dreht er meinen Kopf, bis ich in den düsteren Rückteil des Busses blicke. Er lässt los und raunt: «Du hast die Spur der Leibwächterinnen aufgenommen. Sie möchten dich kennenlernen.»

Ein Sirren wird lauter, darin zwei Schatten, der pfeffrige Hauch wird deutlicher. Ich blinzle: Vor mir schweben zwei Schmetterlinge.

Sie sind schwarz, mit blutroten Flecken auf den Flügeln. Als sie näher fliegen, zucke ich zurück. «Halte still», Goku berührt meine Flanke: «Sie wollen dich bloss identifizieren. Tut nicht weh.» Die beiden sind so dicht vor mir, dass ich sehe, woher das Sirren kommt: Ihre Flügel sind aus durchscheinendem Stahl, bedeckt von pudrigen Schuppen. Synchron weichen sie auseinander, tauchen an meinen Seiten auf, und bevor ich schielen kann, berühren mich ihre harten Keulenfühler in den Augenwinkeln. Dann sind sie weg.

Ich muss niesen. «Das war’s», lacht Goku. «Du bist in ihrem Schutz. Du gehörst zur Gang.»

Ist es das spöttische Geräusch, das von Turtle kommt? Etwas Süffisantes in Gokus Blick? Oder bin ich einfach übermütig? Ich werde grob, bevor ich denke. «Wissen diese Sommervögelchen, dass ich einen Ochsenfroschdämon aufschlitze wie eine Pellwurst?»

Goku quietscht vergnügt. Er reibt seinen Bauch und grinst frech. «Oops, Ko-chan, dann musst du jetzt tapfer sein.» Er stösst einen schrillen Pfiff aus, und wieder drängt das metallische Sirren heran. Die Leibwächterinnen tanzen vor mir, ausser Reichweite meiner Pfoten. «Nur ein Müsterchen, Maestras», ruft ihnen Goku fröhlich zu.

Mein Kamm sträubt sich. Reagieren kann ich nicht mehr. Der Schmetterling knallt auf meine Nase wie eine Wespe an die Windschutzscheibe. Doch sterben soll ich. Die stählernen Flügel quetschen meine Nase wie eine Brombeere, der Schmerz ist spitz und roh. Ich heule auf und schnappe empört nach Luft. Im selben Moment schiesst die zweite Leibwächterin hinein in meine Schnauze, hinab in meinen Rachen, schrammt über das Gaumensegel und schliesst meine Luftröhre wie eine Kapsel den Flaschenhals. Eine Panikwelle erfasst mich. Ich begreife.

Goku schnalzt. Die Leibwächterin schnellt aus meiner Luftröhre ins Freie, die andere gibt meine Nase frei, dann flappen beide triumphierend über meinem Kopf. Ihre Fühler klatschen zusammen; der Pfeffergeruch ist beissend. Goku lacht: «Sorry, Ko-chan. Das ist ihr Siegesritual, nicht persönlich gemeint.» Die Schmetterlinge gaukeln zurück ins Dunkle, und das Äffchen grunzt zufrieden: «Na, überzeugt?»

Ich lege den Kopf schief. «Alles klar. Das kam unerwartet.» Und Turtle, der die Action auf einem Bildschirm verfolgt hatte, räuspert sich: «Killerinstinkt. Unwiderstehlich. Respekt.» Er hält den Wagen an. «Mammern. Wir sind da.»


🀄︎

2  Parking

Turtle neigt den Kopf, die Seitentüre des Busses öffnet sich – und da steht Ramón, bleich, mit erhobener Hand, bereit anzuklopfen. Es ist noch hell im Freien; Schatten schneiden sein Gesicht in Puzzleteile. Mit einer Handbewegung winkt ihn Goku ins Innere, die Türe schliesst sich. Ramón nickt ausdruckslos und sinkt in den Sitz neben unserer Liegebank. Irritiert tastet er nach unten; auch ihn hat die unsichtbare Kraft fixiert. Er räuspert sich und reibt seinen Nacken. Er holt Atem. Als sich seine Lippen öffnen, sickern Trauer, Angst und Ratlosigkeit in den Raum. «Doktor Schönborn ist tot.»

Die Kälte packt mich wie bei der Ankunft vor seinem Haus, als der Doktor im Kies aufschlug, sich seine Gestalt auflöste und wie Wasser im Boden verschwand. Und bevor jemand von uns reagieren kann, bricht die gefrorene Stille zusammen.

Es ist, als ob die Faust eines Riesen an den Bus geschlagen hätte. Auf beiden Seiten des Wagens scheint jemand das Blech wegzubrechen, in Stücken und so sorgfältig, wie man ein gekochtes Ei schält. Goku ist aufgesprungen, Turtle stemmt sich in die Höhe. Pfeffrige Geruchsfäden breiten sich aus. Ramón sitzt kerzengerade, und ich spüre, wie sich meine Lefzen nach hinten ziehen. Knirschende Geräuschfetzen enden mit einem dumpfen Blopp. Dann höre ich ein schwieliges Trampeln; eine schwere Masse entfernt sich rasch.

Goku und Turtle wechseln einen Blick. Offensichtlich wissen sie Bescheid. Goku murmelt: «warum jetzt?». Hatte Turtle eine Nachricht erhalten? Er schaut zu uns: «Loki. Im Park. Kommt.» Die Wagentüre geht auf, und gleichzeitig löst sich die Zugkraft, die uns an die Sitze bindet. Ich springe hinaus.

Eine Lärmböe braust auf uns zu, und dieses Mal scheint alles klar: Vom Dach der nahen Klinik steigt knatternd ein rotweisser Helikopter auf, dreht in unsere Richtung und fliegt zurück, nach Zürich. Die Staubwolke legt sich.

Ramón bleibt fassungslos vor dem Bus stehen. Er starrt ungläubig, seine Hand berührt das unversehrte, bemalte Blech der Seitenwand. Die zeigt eine Steppenlandschaft nach Sonnenuntergang. Er dreht sich zu Goku und Turtle, die ihn ungerührt beobachten. Nie hatte ich Dr. Ingold so verwirrt erlebt. «Da war eben ein Tierbild, in Lebensgrösse. Ein Nashorn, das zum Mond schaut.»

Goku nickt und sagt beiläufig: «Ja. Und auf der Gegenseite trinkt sie aus einem Wasserloch. Das ist Rai. Wenn sie da ist. Sie mag Ruhe ebenso wie Lärm.» Ramón steht schon dort, entgeistert: «Das Blech ohne Kratzer. Die Szene mit dem Wasserloch. Kein Nashorn!» Wir sind auf dem leeren Parkplatz am Rand des Klinikgartens. Die Anlegestelle weiter unten ist verlassen. Das letzte Kursschiff des Tages war vor Stunden da.

Die Nase über dem Kies folge ich der frischen Spur, so fremd wie das Trampelgeräusch vorhin. Dann stehen wir vor dem überwachsenen, geschmiedeten Westtor des alten Parks. Es ist offen, ein angerostetes Vorhängeschloss liegt im Gras. Turtle knurrt: «Rai, auf dem kürzesten Weg.» Wir sind im Park, und Ramón fragt: «wer?». «Das Nashorn, Doktor, hab’ ich vorhin gesagt», murrt Goku. «Sie gehört zur Gang.»

Von vorn ruft Turtle. Wir sind auf einer Lichtung, das Wasser ist nahe, die Wellen hörbar, und ein dünner, abnehmender Mond hängt über uns. Allmählich verblasst der Himmel. Das Nashorn, Rai, ruht auf dem Moos – und an ihre Flanke gelehnt sitzt Loki in einem Overall aus tiefgrüner Fallschirmseide, einen brennenden Joint im Mund, mit ihren Cowboy-Stiefeln, die Ramón küssen würde. «Danke, dass Ihr schon hier seid», sagt sie in ihrem Zuckerwattebass, für den ich mich jederzeit zu ihren Füssen lege. Rai schnauft, Turtle grunzt, Goku wirft sich in Positur, ich lecke meine Nase, und Ramón hat Tränen in den Augen. Dr. Schönborn ist im Rettungshelikopter in seinen Armen verstorben.

Loki rollt die Schultern am ledrigen Panzer von Rai. Das Nashorn wirkt vor dem Abendhimmel so imposant wie ein Grabhügel. Loki schaut in den Mond, ihr Blick streift über den nahen Mammutbaum, die Residenz der Naga. Sie lächelt in die Runde, ihre Stimme süss und klebrig in den Ohren: «Ob wach oder tot, starr oder weich – im Gleichgewicht zeigt sich der Spalt, durch den etwas ans Licht kommt. Wut blockiert Trauer. Trauer flutet die Wut. Mut, nur Mut.» Der Bauch des Nashorns dehnt die Worte und lässt unsere Trommelfelle vibrieren.

Seufzt Rai? Oh nein, doch ihr Atem geht tief. Pfefferfäden! Die beiden Schmetterlinge haben sich auf ihrem Horn niedergelassen und fächeln, kaum sichtbar. Sie kennen den exzellenten Geruchsinn des Nashorns. Die drei sind ein tödliches Team, bemerken geringste Lebenszeichen und werden zum präzisen Pfeil, der eine brennende Kerze in der Schwärze der Nacht durchtrennt.

«Die Chefärztin und ich haben uns zu Dr. Schönborns Tod ausgetauscht.» Loki schaut zu Ramón, der nickt – er mag jetzt nicht reden. «Betrachtet es als eine Erfolgsgeschichte», sagt Loki trocken. Ihre Hand tätschelt die Lederhaut des Nashorns. Sie will niemanden trösten, nichts schönreden; es ist ihr ernst.


🀄︎

3  Vermisst

Hat Ramón ihr getextet? Wir hören sie rennen. Atemlos erscheint sie auf der Lichtung, den weissen Kittel offen. Sie ist ausser sich. Schaut kurz in die Runde und sinkt neben Ramón auf den Boden, klammert sich an seinen Arm. «Meine Kleine ist verschwunden! Niemand hat sie gesehen, seit der Helikopter gestartet ist. Ich war eben beim Orakel. ‹Wo ist meine Tochter?› Zuerst sinkt der Kopf unter die Oberfläche, dann taucht er auf, die Augen geschlossen, die Lippen zusammengepresst. Ich kann mich kaum beherrschen, um nicht zu schreien: ‹wo?› Schliesslich murmelt er ein einziges Wort: ‹dazwischen›. Und versinkt wieder im Öl.» Die Chefin schnaubt, machtlos, wütend. Ramon streicht ihr über den Rücken, flüstert unverständlich. Inzwischen ist es beinahe dunkel.

Loki schaut in meine Richtung, doch ihre Überraschung gilt nicht mir. Der Dachs. Er bewegt sich lautlos, nur sein Schnaufen und Rüsseln treibt auf uns zu. Er stoppt und drückt sich so flach in den Kies, dass wir blinzeln, um seine Umrisse auszumachen. Er ist alarmiert und versprüht einen beissenden Geruch. Die kraftlose Trauerwelle, ausgelöst durch Schönborns Tod, weicht einer Brandung, die alle aufscheucht.

«Die Kleine ist weg», bellt er. «Wir verlieren Orla.» Goku kratzt sich. Turtles Flosse zuckt. Ramón und die Ärztin schauen fragend zu mir. Rai liegt bewegungslos. Ich verstehe: Sie hören nichtssagende Dachsgeräusche. Loki hebt eine Braue: «Kokoro-san, bitte übersetzen Sie.»

Der Dachs robbt näher zu mir. Er riecht nach überreifen Erdbeeren und etwas Fauligem. «Wir sind uns schon begegnet, hier.» 

«Ja, du hast die Amphore geknackt und den Ton gefressen. Du beschützt das Mädchen.»

Er schüttelt sich, mich lässt die Erinnerung zittern. Wir sehen das Orakel vor uns, zuckend in einer Öllache vor dem Mammutbaum.

«Sie heisst Orla?»

Der Dachs schaut zur Seite. «Ist keltisch. ‹Goldene Prinzessin›, Doktor Schönborn hatte den Namen gewählt. Er ist ihr Vater. Ich bin am Ende meiner Zeit, die Kleine aber ist inzwischen verwegen genug, die Welt aufzureissen. Sie ist furchtlos wie wir. Doch nun ist sie zu weit gegangen. Als sie aus Schönborns Umarmung kam, war etwas in ihr, das ich nicht kenne. ‹Was hat dir dein Vater zum Abschied ins Ohr geflüstert?› Sie schaute durch mich hindurch: ‹ein Wort mit Schaum›. Die Chefin und Ingold kümmerten sich um den sterbenden Schönborn, und Orla löste sich von ihnen wie ein Tropfen von einem tauschweren Blatt.» Der Dachs schnauft bekümmert. Ich schaue in die Runde. Sie haben uns verstanden.

Jählings erscheint hinter Rai ein Glitzern. Meine Gedanken kreiseln. Wie macht sie das? Von einem zweidimensionalen Bild an einer Buswand zu solcher Wucht? Ok, sie ist doppelt abgebildet, auf beiden Seiten des Wagens – dazwischen ist sie jedoch nicht. Hat es mit Hitze zu tun? Plötzlich lösen sich Lichtpunkte von ihr und gleiten über den Boden; eine träge Schlange, die sich gemächlich entrollt. Sie dehnt sich aus und kreist uns ein. Pfefferfäden kleben sich an meine Nase: Die Schmetterlinge sind in tödlicher Erregung. Loki und Rai wirken erstarrt vor dem Nachthimmel, matte Scherenschnitte aus brüchigem Papier.

Der feuchte Dachsrüssel lässt mich zusammenfahren. «Orla stapfte mit grimmiger Entschlossenheit in den Park. Ich folgte ihr, wie immer. Wie immer dachte sie laut. ‹Die Erwachsenen wissen nichts. Mein Vater ist tot. Und das Orakel jammert. Ich muss zum Mammutbaum.› 

Ich fauche und blockiere ihren Weg: ‹Wo willst du hin? Was meinte denn dein iPad zu Naga, Sanskrit? Das sollte dich stoppen, nicht anspornen!› Sie lächelt versöhnlich: ‹Schlauester Dachs von allen, danke für den Tipp. Bleib einfach hier und mach dir keine Sorgen. Ich muss sie treffen.› Sie hüpft über mich, wie sie es als Kind mit Spielzeug tat und mit allem, das ihr im Weg war.»


🀄︎

4  Orla

Ich habe den Kinderkram satt. Ich bin bald acht. Jetzt ist Schluss mit ‹Unsichtbarmachen›, damit mich niemand sieht und der ‹Gummibandtechnik›, die mich dahin zieht, wo ich hin will. Nichts von dem, was Mutter mich lehrte, nützt mir heute. Selbst mein Dachs weiss nicht genug. Als Vater mich in den Arm nahm, begriff ich, dass es das letzte Mal war. Schliesslich sagte er: «Ich sterbe.»

Vor seinem Abschied musste er ja unbedingt noch einen Scherz machen: «Was hältst du von einem Nikita-Frühstück?» Eines unserer Geheimnisse: Schoko-Croissants und eine heisse Schokolade dazu. «Warum Nikita?», hatte ich einmal gefragt. Vater erzählte mir von Erlebnissen in Paris und einem Film, in dem die Heldin so hiess. «Bin ich wie sie?» Er hatte mich lange betrachtet. «Vielleicht. Andererseits: lieber nicht.» Und dann, um mich abzulenken, tat sein Hirn einen typischen Sprung: «Nimm es als Akronym: ‹nicht-Kinder-tauglich›. Gilt auch für unser Frühstück.» Auf diese Weise verwöhnte und trainierte er mich bei jeder Gelegenheit. Kein Wunder, kann mir heute niemand helfen, mit dem, was mich wirklich interessiert.

Ich musste weinen. «Orla, woraus sind wir gemacht?» «Teilchen», schluchze ich. «Und wenn die sich auflösen?» «Wellen», stammle ich, die Hände vor dem Gesicht, ein Brennen im Körper. Er legt seine Hand schwer auf meinen Scheitel, sie fühlt sich dennoch weich an, das Gewicht sinkt in mich, ein sanftes Pendel, es rührt im Innern, der Schmerz wird flüssig und sinkt, von der Brust in den Bauch, vom Bauch in die Beine, in die Füsse. Meine Fusssohlen glühen, und mein Kopf ist auf einmal weit und hell.

Als ich in Vaters Gesicht schaue, sind seine Augen direkt vor meinen. «Es ist ein Versuch, goldenes Prinzesschen. Vielleicht ist es dein Ende, Orla. Und möglich ist alles, kleine Nikita. Es ist die Zeit. Denke an die Zeit. Kontaktiere die Naga.» Dann flüsterte er den Satz mit dem Schaum und sank zurück.

Was ich im Internet finde, beeindruckt mich nicht. Warum ist die Naga hier, in diesem Park? Sie hat einen Patienten in ein Orakel umgeformt, ein Wesen, das Mutter in einer ölgefüllten Wanne am Leben erhält.

Als ich mich ins Labor drei schlich, an der Türe das Schild ‹Nachtruhe. Zutritt ausschliesslich für autorisiertes Personal›, beobachtete mich das Orakel wie ein Alligator, bis zu den Augen und der Nase abgetaucht. Das bläuliche Licht war ich gewohnt. Der haarlose Schädel hob sich. Die Öllinie scharf unter dem Kinn.

«Die Kleine der Chefin. Unsere Klinik-Späherin. Freundin eines Dachses. Womit kann ich dienen?» Seine Stimme gleicht jener des jungen Mannes, den Mutter befragt und auf die Zuweisung des Vaters, selbst ein Arzt, eingewiesen hatte. Der hatte die Begegnung mit der Naga nicht überlebt. «Warum ist die Naga hier bei uns?», frage ich.

Der Mund des Orakels verzieht sich zu einer Grimasse. «Alles sehe ich, zu allem erscheinen Zeichen – nicht jedoch zu ihr.» Wir schauen uns an. Ich gehe nahe an den Wannenrand, kann nicht widerstehen, tippe mit dem Zeigefinger ins Öl. Es ist warm und nahezu geruchlos. Das Orakel mag mich, zweifellos. Was vom jungen Mann übrig ist, hat Mitleid mit meiner Enttäuschung. Er summt vor sich hin, und ich sinke gegen die Wanne.

Meine Augenlider schliessen sich. Ich tauche in seinen betörenden Singsang und höre kaum verständliche Worte, die wie Orangen aus einem Korb kullern, in Zeitlupe: «Die Zeit gibt’s, damit nicht alles im gleichen Moment abgeht. Der Raum ist da, damit das alles nicht über dich hereinbricht. Du springst nach vorn.» 

Als ich wieder bei Sinnen bin, sitze ich auf dem Teppich vor dem Labor. Ich fühle mich wie Nikita, genau: nicht-Kinder-tauglich, ich bin kein Kind mehr. Meine Zeit mit dem Dachs hat jede Furcht gelöscht; das ist sein grösstes Geschenk. Vater experimentierte mit Teilchen und Wellen wie mit Schoko-Croissants und heisser Schokolade und weckte meine unersättliche Neugier. Das Orakel hängt im Öl und ist auf meiner Seite. Ich bin wissbegierig, ich bin zuversichtlich: ‹Eine Naga kann jederzeit menschliche Gestalt annehmen›, heisst es. Gut.


🀄︎

5  Naga

«Ich bewege mich in einem Plan von Energie. Obwohl sie jeden Begriff kennen, sehen die meisten nicht, was der Satz enthält und wie sie dieser liegenden Acht von Worten folgen könnten. Lemniskate, meint der Pate: Sprache als Rache. Weshalb stolpern Menschen nicht häufiger über Reime? Würde ihnen gut bekommen, sich öfter zu schütteln.

Der Sapiens hinterlässt eine Schleimspur von Langeweile und schreckt zurück bei jeder Berührung mit dem, was vor ihm liegt. Und im Kontrast zum Raspeln wilder Schnecken klingen die menschlichen Geräusche beim Essen lächerlich. Wir weilen in Bäumen, die über tausend Jahre alt werden. Der Grund, weshalb ich in diesem Park hause, nähert sich mir mit kleinen, beherzten Schritten. Unser nächstes Ziel: das begehrte Zwillingsspiel. Eineiig? Nein: Identisch. Oder wie es in Frankreich heisst: echt.

Ich muss mein Feuer auf ein Glimmen dimmen; Koko sind bereits die diskreten Lichttupfer aufgefallen. Die bunte Runde hier soll mitspielen; die Mutter der Kleinen und Ingold dürfen nicht gleich ihre Fühler einziehen. Loki, Kokoro und der Dachs sind erfahren genug; die wissen immerhin, wie Distanz die Hitze reguliert. Die Kriegergang dagegen kann aufmüpfig werden – die glauben ihre alten Geschichten und überschätzen sich leicht. Ha! Der Affenheld, das berstende Nashorn, eine heilige Schildkröte und die formidablen Schmetterlinge: Was für eine Auswahl hat sich da zusammengetan.»

Durch die Chefärztin fährt ein Ruck, ihr Blick irrlichtert, sie zeigt zum Mammutbaum, fixiert eine Gestalt: «Wer ist das?»

Die gebündelte Anspannung der Gruppe schlägt eine Leuchtschneise in die Parknacht. Aus dem Stamm der Sequoiadendron giganteum hat sich eine Gestalt gelöst. Vor ihnen steht eine kleine Frau mit einem freundlichen, zerknitterten Gesicht. Sie ist in einen dünnen Mantel gehüllt, die Ärmel zurückgerollt. Darunter trägt sie eine Bluse mit Rüschchenkragen und einen getupften Wollrock bis zu den klobigen Schuhen. Die sind, wie ihre Arbeitsschürze, über und über mit Wachsresten verklebt. Von ihrer Hüfte hängt ein Etui mit griffbereiten, stählernen Schnitzwerkzeugen. Die Finger ihrer Linken spielen mit einer geschliffenen Dochtnadel, so lang wie der Unterarm eines Säuglings.

Die Ärztin schnappt nach Luft: «Kerzenmeisterin, Marietta! Du bist gestorben, als die Kleine drei war.» Die Alte steht ungerührt. Die Finger der Ärztin verkrallen sich in Ramón. «Orlas Patin.» Sie fühlt, wie ihre Gedanken weggespült werden. «Marietta? Bist du das? Wer bist du? Wo ist meine Kleine? Wie geht es Orla?»

Endlich öffnet die Kerzenmeisterin ihren Mund. Zu hören ist nichts, sie scheint bloss zu gähnen. Durch die Wahrnehmung der Anwesenden aber schieben sich gleissende Dochte. Sie versprühen Wortsterne wie Wunderkerzen:

«Ich bewege mich in einem Plan von Energie. Orlas Mutter, dir ins Herz geredet: Form ist beileibe nicht die Norm. Moleküle der Gefühle benötigen Kühle. Selbst geschärfte Muster bleiben zappenduster. Geschichte ist recht für Geisteswichte. Und alles Gewisse zeigt sich voller Risse.

Ich zeige die Gestalt der Patin, um deinen Verstand nicht zu zerbrechen. Deine Tochter ist nicht mehr. Sie hat mich aufgesucht und ist im Augenblick zerflossen. So sind wir jetzt zu zweit, ein Ziel seit je. Wie es wohl ist, in beiden Welten zu zelten. Orla: Zwillinge. Ach, für die Zeitkleber unter euch: Mit acht war sie gar ein Häppchen. Hab’ einen fetten Zehner draufgemacht; nun sind wir zwei ein Schnäppchen.»

Aus einer Regung, die ihm erst später klar wird, erhebt sich Ramón und zieht die Ärztin mit sich in die Höhe: «Wie können wir euch beide unterscheiden?»

Als die Naga lacht, sind alle elektrisiert: In einer Soundcloud voller Kichern und Sprudeln, unwiderstehlich wie das haltlose Gelächter aus einem Kinderhort, hebt die Alte die glühende Dochtnadel an ihren Kopf – und entzündet sich wie eine Marienkerze auf einem Altar. Während ihre Heiterkeit Funken sprüht, brennt die Figur der Kerzenmeisterin in einem einzigen Atemzug nieder, Wachs fliesst ins Moos, durchscheinender Rauch steigt auf.

Eine Stille bricht herein wie im Zirkus, wenn der Trommelwirbel stoppt und das ganze Zelt den Atem anhält.

Vor ihnen, Schulter an Schulter, posieren zwei junge Frauen. Beide haben dasselbe, schelmische Grinsen im Gesicht. Beider Augen glänzen, bereit zu jedem Unfug. Ihr Tag hat eben begonnen, und ihren leichtsinnigen Plan dieser Nacht behalten sie glucksend für sich.

Die zauberhafte Faszination der Zwillinge reisst die Runde in einen Strudel von Energie. Die macht gegen aussen alles dicht: Strömungen im See türmen sich zu Wogen, Bäume und Büsche verflechten sich zu einem Wall. Der Schein des schmalen Monds verdampft hoch über den Köpfen in der Manege.

Dort will man dem Rätsel auf den Grund kommen.

«Die echte Orla rieche ich von hier», knurrt Kokoro. «Ist gut zu hören, wer Orla ist; so gluckst nur eine», quiekt der Dachs. Turtle hebt eine Flosse und zeigt: «Die dort hat mich gekrault, als ich in Ko-chans Körper steckte.» Loki inhaliert tief, stösst den Rauch aus und sagt amüsiert: «Ihr wisst schon, wer wer ist, Ladies, nicht?»

«Genug», flüstert die eine und schnippt mit den Fingern. Schlagartig verbrutzeln die Gedanken rundum wie Drähte in alten Glühbirnen. Kokoro reibt sich mit der Pfote reflexartig über die Nase. Der Dachs fiept orientierungslos. Turtle rudert gegen eine Welle von Wut. Loki murmelt vor sich hin, es sei doch eh egal. Rai schwimmt in Wassermelonensaft, und Goku tastet nach seinem Kampfstab aus alter Zeit. Die Schmetterlinge haben nichts mitbekommen; es gab keinen Anlass, jemanden umzubringen, der Rest interessiert sie nicht.

Doch die beiden Erwachsenen, die stehen, halten Stand. «Wer von euch ist unsere Orla?», fragt Ingold zum zweiten Mal. Und die Ärztin, ganz weich, ganz Mutter, schaut den Zwillingen ohne Arg ins Gesicht: «Orla?»

Da macht die Naga eine winzige Drehung in ihre Richtung. Sie stehen sich frontal gegenüber, ausser Reichweite zwar, doch ohne den geringsten Schutz für die Ärztin. «Nur ihre Mutter kann sie auseinanderhalten, sagt ihr über Unsereiner, wie drollig. Nun denn: Triffst du sie, einst deine Orla, ritzt dich ein Andenken an ihren Vater. Halte dich fern vom zweiten Zwilling. Und meide sie zu zweit.»

Die Ärztin weint, erleichtert und verzweifelt. «Was machst du jetzt, Liebes?»

Die Zwillinge breiten ihre Handflächen aus, sie zwinkern sich zu, ihre Haut beginnt zu leuchten wie Bernstein, ein Strahlen überzieht ihre Gesichter, und es wird plötzlich so hell, dass sich alle abwenden müssen. Aus dem Mammutbaum dringt ein wohliges Knistern, das Ramón daran erinnert, wie er in ein Baguette beisst. Um die Rindenfasern des Stammes gaukeln Glühwürmchen. Loki, gesättigt von Pot, wuchtet sich in die Höhe und ruft munter: «Auf zum Line Dance, ihr Monster!»


🀄︎